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Das mythische Paar auf einer Oinochoe aus Arkades, vielleicht stellte es Theseus und Ariadne dar. 7.Jh.v.Chr. Museum Heraklion.
Theseus
Es ist eine schöne Eigentümlichkeit der Mythen und Heldensagen des klassischen Altertums,daß sie für die Blicke des Forschers und für das Auge der Einfalt... gleich mächtigen Reiz haben.
Während der Gelehrte in ihnen ... der ersten Morgendämmerung der Geschichte nachgeht, entzückt den unbefangenen Betrachter die Entfaltung der reichsten Gestalten, das Schauspiel einer gleichsam noch in der Schöpfung begriffenen Natur- und Geisterwelt; er sieht mit Lust und Bewunderung die Erde mit Göttern und Göttersöhnen aus dem Chaos emporsteigen...
Gustav Schwab
THESEUS IN ATHEN
Zu Athen fand der junge Held nicht den Frieden und die Freude, die er erwartet hatte. Bei der Bürgerschaft herrschte Verwirrung und Zwietracht, und das Haus seines Vaters Aigeus selbst fand er in trauriger Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Korinth und den verzweifelnden Iason verlassen hatte, war zu Athen angekommen, hatte sich in die Gunst des alten Aigeus eingeschlichen und versprochen, durch ihre Zaubermittel ihm die Kraft seiner Jugend zurückzugeben. Deswegen lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältnisse.
Durch ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde von der Ankunft des Theseus erhalten, und nun überredete sie den Aigeus, den der Parteizwist seiner Bürger mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem er den Sohn nicht ahnte und den sie ihm als einen gefährlichen Späher darzustellen wußte, als Gast zu bewirten und mit Gift aus dem Wege zu räumen.
So erschien denn Theseus unerkannt beim Frühmahle und freute sich, den Vater selbst entdecken zu lassen, wen er vor sich habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgesetzt, und Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der neue Ankömmling, von dem sie aus dem Hause vertrieben zu werden fürchtete, die ersten Züge daraus tun würde, die wirksam genug sein sollten, ihm die jungen wachsamen Augen für immer zu schließen.
Theseus aber, den mehr nach der Umarmung seines Vaters als nach dem Becher verlangte, zog, scheinbar um das vorgelegte Fleisch zu zerschneiden, das Schwert, das sein Vater für ihn hinter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aigeus es gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen sollte. Dieser sah nicht sobald die ihm wohlbekannte Waffe blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er sich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er den vom Schicksal ersehnten Sohn in junger Heldenblüte vor sich habe, so schloß er ihn in seine Arme.
Sofort stellte der Vater ihn der Versammlung des Volkes vor, dem er die Abenteuer seiner Reise erzählen mußte und das den früh erprobten Helden mit freudigem Jauchzen begrüßte. Gegen die falsche Medea hatte der König Aigeus jetzt einen Abscheu gefaßt, und die mordlustige Zauberin wurde aus dem Lande vertrieben.
THESEUS BEI MINOS
Die erste Tat, die Theseus verrichtete, seitdem er als Königssohn und Erbe des attischen Throns an seines Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig Söhne seines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den Thron zu erlangen, wenn Aigeus ohne Kinder stürbe, und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß ein angenommener Sohn des Pandion, wie Aigeus war, König der Athener sei, sondern daß auch in Zukunft ein hergelaufener Fremdling die Herrschaft über sie und das Land führen sollte.
Sie griffen daher zu den Waffen und legten dem Ankömmling einen Hinterhalt. Aber der Herold, den sie mit sich führten und der ein fremder Mann war, verriet diesen Plan dem Theseus, der nun plötzlich ihr Versteck überfiel und alle fünfzig niedermachte. Um durch diese blutige Notwehr die Gemüter des Volkes nicht von sich abzukehren, zog hierauf Theseus auf ein gemeinnütziges Wagestück aus, bezwang den marathonischen Stier, der den Bewohnern vier attischer Gemeinden nicht wenig Not verursacht hatte, führte ihn zur Schau durch Athen und opferte ihn endlich dem Apollo.
Um diese Zeit kamen von der Insel Kreta zum drittenmal Abgeordnete des Königs Minos, um den gebräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demselben verhielt es sich also: Der Sohn des Minos, Androgeos, war, wie die Sage ging, im attischen Gebiete durch Hinterlist getötet worden.
Dafür hatte sein Vater die Einwohner mit einem verderblichen Kriege heimgesucht, und die Götter selbst hatten das Land durch Dürre und Seuchen verwüstet. Da tat das Orakel Apollos den Spruch, der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn sie den Minos besänftigten und seine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten sich die Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhalten unter der Bedingung, daß sie alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta zu schicken hätten. Diese sollen nun von Minos in sein berühmtes Labyrinth eingeschlossen worden sein, und dort habe sie, erzählt man, der gräßliche Minotauros, ein zwitterhaftes Geschöpf, das halb Mensch und halb Stier war, getötet, oder man habe sie verschmachten lassen.
Als nun die Zeit des dritten Tributes herbeigekommen war und die Väter, welche unverheiratete Söhne und Töchter hatten, diese dem entsetzlichen Lose unterwerfen mußten, da erneuerte sich der Unwille der Bürger gegen Aigeus, und sie fingen an, darüber zu murren, daß er, der Urheber des ganzen Unheils, allein seinen Teil an der Strafe nicht zu leiden habe, und nachdem er einen hergelaufenen Bastard zum Nachfolger ernannt, gleichgültig zusehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entrissen würden.
Den Theseus, der sich schon gewöhnt hatte, das Geschick seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten, schmerzten diese Klagen. Er stand in der Volksversammlung auf und erklärte, sich selbst ohne Los hinzugeben. Alles Volk bewunderte seinen Edelmut und aufopfernden Bürgersinn; auch blieb sein Entschluß, obgleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten bestürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu besitzen, doch nicht so bald wieder berauben solle, unerschütterlich fest.
Seinen Vater aber beruhigte er durch die zuversichtliche Versicherung, daß er mit den herausgelösten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, sondern den Minotauros bezwingen werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Kreta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslosigkeit mit schwarzem Segel abgesendet worden. Jetzt aber, als Aigeus seinen Sohn mit so kühnem Stolze sprechen hörte, rüstete er zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise aus, doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit und befahl ihm, wenn Theseus gerettet zurückkehre, dieses auszuspannen; wo nicht, mit dem schwarzen zurückzukehren und so das Unglück zum voraus anzukündigen.
Als nun das Los gezogen war, führte der junge Theseus die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerst in den Tempel des Apollo und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwundenen Ölzweig, das Weihgeschenk der Schutzflehenden, dar. Nachdem das feierliche Gebet gesprochen war, ging er von allem Volk begleitet mit den auserlesenen Jünglingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und bestieg das Trauerschiff.
Das Orakel zu Delphi hatte ihm geraten, er solle die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Geleite sich erbitten. Theseus verstand diesen Spruch nicht, brachte jedoch der Aphrodite ein Opfer dar. Der Erfolg aber gab der Weissagung ihren guten Sinn.
Denn als Theseus auf Kreta gelandet und vor dem Könige Minos erschienen war, zog seine Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen Unterredung und händigte ihm einen Knäuel Faden ein, dessen Ende er am Eingange des Labyrinthes festknüpfen und den er während des Hinschreitens durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen lassen sollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Minotauros seine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab sie ihm ein gefeites Schwert, womit er dieses Ungeheuer töten könnte.
Theseus ward mit allen seinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte den Führer seiner Genossen, erlegte mit seiner Zauberwaffe den Minotauros und wand sich mit allen, die bei ihm waren, durch Hilfe des abgespulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt entfloh Theseus samt allen seinen Gefährten mit Hilfe und in Begleitung Ariadnes, die der junge Held, beglückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwartet errungen, mit sich führte.
Auf ihren Rat hatte er auch den Boden der kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater das Nachsetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er seine holde Beute ganz in Sicherheit und kehrte mit Ariadne sorglos auf der Insel Dia ein, die später Naxos genannt wurde. Da erschien ihm der Gott Bakchos im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm selbst vom Schicksal bestimmte Braut sei, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus die Geliebte nicht ihm überlassen würde.
Theseus war von seinem Großvater in Götterfurcht erzogen worden; er scheute den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf der einsamen Insel zurück und schiffte weiter. In der Nacht erschien Ariadnes rechter Bräutigam, Bakchos, und entführte sie auf den Berg Drios; dort verschwand zuerst der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unsichtbar.
Theseus und seine Gefährten waren über den Raub der Jungfrau sehr betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen sie, daß ihr Schiff noch die schwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attische Küste verlassen; sie unterließen, dem Befehle des Aigeus zufolge die weißen Tücher aufzuspannen, und das Schiff flog in seiner schwarzen Trauertracht der Heimatküste entgegen.
Aigeus befand sich eben an der Küste, als das Schiff herangesegelt kam, und genoß von einem Felsenvorsprunge die Aussicht auf die offene See. Aus der schwarzen Farbe der Segel schloß er, daß sein Sohn tot sei. Da erhub er sich von dem Felsen, auf dem er saß, und im unbegrenzten Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die jähe Tiefe; zu seinem Andenken nannte man von da an dies Meer das Agäische.
Indessen war Theseus gelandet, und nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, schickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der sieben Jünglinge und Jungfrauen und seine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem Empfange denken sollte, der ihm in der Stadt zuteil ward. Während die einen ihn voll Freude bewillkommten und als den Überbringer froher Botschaft bekränzten, fand er andere in tiefe Trauer versenkt, die seinen fröhlichen Worten gar kein Gehör schenkten. Endlich löste sich ihm das Rätsel durch die erstallmählich sich verbreitende Nachricht vom Tode des Königes Aigeus.
Der Herold nahm nun zwar die Kränze in Empfang, schmückte aber damit nicht seine Stirne, sondern nur den Heroldsstab und kehrte so zum Gestade zurück. Hier fand er den Theseus noch im Tempel mit der Darbringung des Dankopfers beschäftigt; er blieb daher vor der Türe des Tempels stehen, damit die heilige Handlung nicht durch die Trauernachricht gestört würde. Sobald das Brandopfer ausgegossen war, meldete er des Aigeus Ende. Theseus warf sich, vom Schmerz wie vom Blitze getroffen, zur Erde, und als er sich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter Freudenjubel, wie sie es sich gedacht hatten, sondern unter Wehgeschrei und Klageruf in die Stadt.
THESEUS ALS KÖNIG
Nachdem Theseus unter vielen Klagen seinen Vater bestattet hatte, weihte er dem Apollo, was er ihm gelobt hatte. Das Schiff, in welchem er mit den attischen Jünglingen und Jungfrauen abgefahren und gerettet zurückgekehrt war, ein Fahrzeug von dreißig Rudern, wurde zum ewigen Andenken von den Athenern aufbewahrt, indem das abgängige Holz immer wieder durch neues ersetzt ward. Und so wurde dieser heilige Überrest alter Heldenzeit noch geraume Zeit nach Alexander dem Großen den Freunden des Altertums gezeigt. ….
Quelle:
"Die schönsten Sagen des klassischen Altertums"
in zwei Bänden
Gustav Schwab
Mit einem Nachwort von Manfred Lemmer, der auch die Zusammenstellung der Auskünfte besorgte, und einem Porträt Gustav Schwabs nach einem Stich von C. Barth
Register: Ortrun Hartmann
© 1965 Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig (Nachwort und Register)
© 1987 Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar (für diese Ausgabe)
ISBN Sammel-Nr. 3-378-00033-3
ISBN 3-378-00034-1
(Bd. 2, ISBN 3-378-00036-8)
Erste Auflage
Lizenz Nr.396/265/60/87 LSV 7108
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
Schrift: Bodoni-Antiqua
Reihengestaltung: Angelika Kuhrt
Typographie, Einband, Vorsatz: Lore Jacobi
Printed in the German Democratic Republic
Bestell-Nr. 812 094 1
02500 (1/11)
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