|
Erlkönig
Johann Wolfgang Goethe
Bild: www.goethezeitportal.de
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. -
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? -
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? -
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -
»Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.«
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? -
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. -
»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? -
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. -
»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« -
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! -
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
Rede des Erlkönigs in Anführungszeichen. Reden des Kindes und des Vaters durch Gedankenstriche getrennt.
Entstanden und Erstdruck 1782. Angeregt durch Herders Übertragung der dänischen Volksballade "Erlkönigs Tochter". "Aus dem dänischen >ellerkonge< = Elfenkönig war durch Kombination mit dem Wort Eller = Erle fälschlich ein >Erlkönig< geworden, was aber Goethes Phantasie nun gerade anregte zur Gestaltung der an Bäume gebundenen Elementargeister." (Erich Trunz; Hamburger Ausgabe, Bd. 1, S. 542.)
Quelle:
www.goethezeitportal.de
|
|