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"Achillesmuskeln"
Jaroslav Petr
Deutsch von Reinhard Heinrich
aus der Anthologie "Stalo se zitra" herausgegeben von Ivo Zelezny, Nakladateltsvi Svoboda
Praha 1984
Auf dem Asphalt der Autobahn ist eine große, gelb leuchtende Sechzig vorübergehuscht. Georg Zikowski stemmt sich regelmäßig gegen die Pedale. Auf dem Monitor, der an einem langen Arm aus dem Begleitfahrzeug herausgeschoben ist, verfolgt er, wie das Feld hinter ihm brodelt. In der rechten oberen Ecke des Bildschirms flackern ein blauer Punkt und die Ziffern +4:16 -9. Die kalte Rechnung des kleinen Rechners. Der Vorsprung wächst und macht vier Minuten sechzehn Sekunden, die Differenz zum führenden Fahrer der ganzen Klassifikation ist auf neun Sekunden zurückgegangen. Das weiß auch das Feld. Das Maschinentempo von zweihundert Umdrehungen pro Minute auch nicht für einen Augenblick absinken lassen.
Die Konzentration der Milchsäure in den Muskeln ist angestiegen. Die implantierten Sensoren haben den Impuls zu dem im Lenker eingelassenen Mikroprozessor gesandt. Eine Pumpe ist angelaufen, und ein vitalisierendes Gemisch strömt durch elastische Kanülen aus dem Reservoir im Fahrradrahmen unmittelbar in die Adern an Georgs Beinen.
Mäßige Steigung an der Autobahnüberführung. Die Übersetzungen haben sich automatisch der erhöhten Muskelspannung angepaßt, und die Pumpe beginnt Sauerstoff zuzuführen. Die zehn Liter Vitalkapazität der Lunge reichen nicht. Die Dosierung des Vitalisators scheint ihre Mucken zu haben und das linke Bein zuwenig zu bekommen. Er ist nervös geworden. Eine Störung hätte ihm gerade noch gefehlt.
Das Bild des Monitors ist zu einem roten Kreis auseinandergeflossen. Im Feld tut sich etwas. Georg hat sich an das Auto herangearbeitet, um besser zu sehen. Den Bildschirm erfüllt ein Chaos aus verbogenem Metall und menschlichen Körpern mit rotem Blut und grünem, aus zerrissenen Kanülen herausfließendem Vitalin. Ein Massensturz. Es genügt der geringste Fehler eines Fahrers, ein Ausfall der Pumpe oder eine Verstopfung des Oxydators, und für .. .zig Menschen gilt es das Leben. Im Gewühl der Rennfahrer sucht Georg nach dem rothaarigen Kopf von Wolf Thijssen. Er ist schauderhaft zerschlagen.
"Ich bin Erster. Ich muß keine Sekunde mehr an diesen rothaarigen armen Teufel schinden", ist Zikowskis erster Gedanke.
In diesem Moment schauten Millionen Menschen auf der ganzen Welt auf sie. Millionen Menschen saßen am Fernseher. Zu Hause, im Gasthaus, auf Bahnhöfen und draußen an den Flüssen. Alle knüllten die Wettscheine in den Händen und vergaßen ihre Probleme. Sie fürchteten nicht mehr, die Arbeit zu verlieren oder daß ihnen hinter einer Ecke um ein paar lumpige Kröten jemand die Kehle durchschneiden könnte. Ihnen machte weder die zweimalige Stromsperre noch das stundenlange Schlangestehen nach Grünzeug etwas aus. Sie warteten auf ihre Chance.
Der Regisseur der Fernsehübertragung wählte die Einstellungen aus, in denen deutlich die Aufschrift Kornelius auf Zikowskis Dreß zu lesen war. Morgen werden sich Millionen Menschen Wäsche der Firma Kornelius kaufen gehen. Von morgen an sind Erzeugnisse mit dem Zeichen Kornelius die besten aus einer Flut qualitativ gleichwertiger Waren der verschiedenen Textilgiganten. Für Wolf Thijssen interessierte sich niemand. Georg trieb das federleichte aerodynamische Monstrum mit Siebzigkilometergeschwindigkeit zum Ziel, als hätte er nicht zehn Stunden im Sattel gesessen. Er hörte die Lautsprecher, das irrsinnige Gebrüll der Tausenden auf den Tribünen. "Und hier ist er!" kreischte der Fernsehkommentator. "Er ist der überraschende Sieger des Rennens quer durch Europa. Es siegte Zikowski aus dem Rennstall Kornelius. Kornelius immer und überall der Erste. Kornelius der Beste von allen! Kornelius! Kornelius!"
Franz und Georg Zikowski saßen zu Hause am Tisch und aßen Abendbrot. Georg aß die Portion Hammel auf und legte die Hand auf den Arm des Bruders. "Danke, Franzl. Das ist auch dein Sieg. Niemals vergesse ich dir, daß du mir deine Muskeln gegeben hast."
Franz nahm die Hand mit abweisender Geste weg. "Aber, aber, Kamerad. Wir haben ausgemacht, daß wir darüber nicht sprechen werden. Du hattest immer das bessere Herz und die bessere Lunge als ich. An meiner Stelle hättest du dasselbe getan. Heute ließe sich ohne hyperfunktionale Muskelmontage kein Radsport mehr machen. Woher hätten wir das Geld für ein spezialtrainiertes Transplantat nehmen sollen? Wenn ich auch nicht so gut gefahren bin wie du, war ich doch kein gar so schlechter Radfahrer, oder?"
"Du warst der beste Radfahrer und Kamerad, den ich mir wünschen konnte." Franz lächelte dankbar. "Schmeichler. Das war unsere einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Und als eineiige Zwillinge riskierten wir nicht, daß das Transplantat abgestoßen würde. Lassen wir das. Rühme dich lieber, wieviel du heute kassiert hast."
"Das macht zweihundertfünfzigtausend für jeden. Wir fahren doch halbe-halbe. Überdies hat mir Wright zwei Millionen für den Umstieg geboten."
Franz pfiff anerkennend. Georg sah traurig auf die leeren Beinkleider des Bruders und dann auf seine ungeheuerlich voluminösen Beine, die an den Knochen, speziell verstärkt durch Titanstreben, das sinnreich angenähte Geflecht der gewaltigen Muskeln von zwei Menschen trugen. Beine, imstande, jedes beliebige Radrennen zu gewinnen, aber zu nichts anderem fähig.
"Den ganzen Kies würde ich eintauschen für einen Lauf über eine Wiese", sagte Georg.
Sie läuteten nach dem Diener und ließen sich in ihren Rollstühlen hinausbringen in den dunklen, stillen Garten.
Quelle:
"Neue Sterne"
Aus dem Tschechischen von
Karin Alpers, Katrin Boese, Reinhard Fischer,
Reinhard Heinrich, Karl-Heinz Jähn, Gustav Just,
Heinz Koblischke, Eleonore Schmidt, Erik Simon,
Susanne Stengel und Barbara Zulkarnain
(c) Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1985
(Zusammenstellung, deutschsprachige Ausgabe und Nachwort:
Lizenz-Nr.: 409-160/153/85 o LSV 7234
Umschlag- und Einbandentwurf: Erhard Grüttner
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
6226750
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