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"CLOCHEMERLE"
Gabriel Chevalier
Das Echo des 19. September
Die Verwundeten waren abtransportiert. Rasend vor Wut, begab sich Tafardel auf die Post und setzte sich direkt mit den Lokalkorrespondenten der Pariser Presse in Verbindung, die ihrerseits dringend diese furchtbaren Meldungen des Lehrers nach Paris telefonierten. Nur wenig abgeschwächt erschienen diese Meldungen in den Abendzeitungen der Hauptstadt. Die in der allgemeinen Entrüstung übertriebenen dramatischen Vorfälle in Clochemerle setzten die Minister in Schrecken, in erster Linie Alexis Luvelat, der gleichzeitig diese wichtige Angelegenheit und die zeitweilige Vertretung der Regierung wahrzunehmen hatte.
Denn der Ministerpräsident weilte gerade in Begleitung des Außenministers und eines beträchtlichen Stabes von Sachverständigen in Genf, wo er Frankreich auf der Abrüstungskonferenz vertrat. Diese Konferenz hatte unter den glücklichsten Vorzeichen begonnen. Alle Nationen, die großen wie die kleinen, waren sich einig, daß abgerüstet werden sollte, und zu dem Zugeständnis bereit, daß eine Abrüstung die Leiden der Menschheit sehr erleichtern würde. Es handelte sich nur noch darum, die einzelnen, notwendigerweise voneinander abweichenden Ansichten in Einklang zubringen und danach einen für die ganze Welt geltenden Plan aufzustellen.
England sagte: "Wir sind seit mehreren Jahrhunderten das erste Seevolk der Welt. Außerdem besitzen wir allein die Hälfte aller in der Welt verfügbaren Kolonien, was bedeutet, daß wir die Polizei für die halbe Welt stellen. Hiervon muß jede Erörterung über die Abrüstung ausgehen. Wir verpflichten uns, daß unsere Tonnage nie über das Doppelte der zweitstärksten Marine der Welt hinausgehen soll. Beginnen wir also damit, die kleinen Flotten abzubauen, dann werden wir sofort mit unserer Reduzierung folgen."
Amerika sagte: "Wir sehen uns vor die Notwendigkeit gestellt, uns mit den Angelegenheiten Europas zu befassen, wo wegen übermäßiger Rüstungen alles schlecht steht. Europa dagegen kann sich selbstverständlich nicht mit den Angelegenheiten Amerikas befassen, wo alles gut steht. Die Abrüstung geht also vor allem Europa an, das keinerlei Qualifikation dafür besitzt, zu kontrollieren, was in anderen Kontinenten vor sich geht. (Außerdem - aber das wurde nur leise in den Kulissen dieser Konferenz geäußert - sind die Japaner riesige und furchtbare Kanaillen.) Wir legen einen amerikanischen Plan auf den Tisch, der, weil wir das wohlhabendste Land der Erde sind, wie alle amerikanischen Pläne ausgezeichnet ist. Nehmen Sie aber unseren Plan nicht an, so machen Sie sich darauf gefaßt, unsere Rechnung präsentiert zu bekommen..."
Japan sagte: "Wir sind bereit, abzurüsten, sofern uns ein Ausdehnungskoeffizient zugestanden wird - den man uns gerechterweise nicht versagen kann, wenn man uns mit Völkern zurückgehender Bevölkerungszahl vergleicht. Wir haben gegenwärtig die höchste Geburtenziffer der Welt, Wenn wir nicht in China ein wenig Ordnung schaffen, wird dieses unglückliche Land in völlige Anarchie zurückversinken, was für die gesamte Menschheit ein unendliches Unglück bedeuten würde. (Übrigens - aber auch das wurde nur in den Kulissen der Konferenz geflüstert - sind diese Amerikaner anmaßende Rohlinge und sehr beunruhigende Schufte.)"
Italien sagte: "Sobald wir unsere Rüstung auf den Stand Frankreichs gebracht haben, dem wir an Bevölkerung gleichkommen, werden wir anfangen, abzurüsten. (Übrigens - aber auch das wurde nur in den Kulissen der Konferenz geflüstert - sind die Franzosen ausgesprochene Räuber. Sie haben uns schon einmal Napoleon gestohlen. Und jetzt stecken sie unser Nordafrika ein. Hat Rom nicht Karthago besiegt - ja oder nein?)"
Die Schweiz sagte: "Als neutrales Land, das dazu berufen ist, sich niemals zu schlagen, können wir soviel rüsten, wie wir wollen, das hat keinerlei Bedeutung. (Übrigens - aber auch das wurde wieder nur in den Kulissen der Konferenz geflüstert - wenn die Abrüstung durchgeführt wäre, so gäbe es keine Abrüstungskonferenz mehr, was wiederum unserem Aktionsausschuß nicht recht wäre. Außerdem hätten Sie, meine Herren, keine Gelegenheit mehr, auf Kosten Ihrer Steuerzahler in die Schweiz zu fahren.)"
Und Belgien: "Als neutrales Land, dessen Neutralität nicht geachtet wird, verlangen wir für uns die Möglichkeit, bis an die Zähne aufzurüsten."
Und die kleinen, gerade erstandenen Völker, die die aufgeregtesten, beunruhigtesten und lautesten waren: "Wir sind begeisterte Anhänger der Abrüstung bei den großen Nationen, die uns von allen Seiten bedrohen. Aber was uns selbst betrifft, so müssen wir zunächst daran denken, uns in angemessener Weise zu bewaffnen. (Übrigens - aber auch das wurde nur in den Kulissen der Konferenz geflüstert - brauchen wir Rüstungen schon wegen unserer Anleihen, denn Rüstungen garantieren unseren Gläubigern, daß sie durch den Handel mit Waffen wieder zu ihren Geldern kommen.)"
Kurz, alle Nationen einigten sich auf eine Formel, die sich unter dem einen Wort "Rüstet ab!" zusammenfassen ließ. Und da alle Nationen ihre militärischen Sachverständigen nach Genf geschickt hatten, hielten es die Firmen Krupp und Schneider für angemessen, ihre besten Vertreter zu entsenden, die zweifellos in den Hotels Gelegenheit finden würden, von neuen Modellen zu sprechen und hübsche Aufträge hereinzubekommen. Diese Agenten, die ihr Handwerk ausgezeichnet verstanden, besaßen umfassende Informationen über die einzelnen Staatsmänner und deren Gefolgsleute und verfügten über einen Bestechungsfonds, der die schwierigsten Gewissen zu beruhigen gestattete. Übrigens hielten es diese beiden Agenten unter dem Einfluß des pazifistischen Milieus für vorteilhafter, ihrerseits auf wirtschaftlichem Gebiet abzurüsten. "Es sind Möglichkeiten für uns beide vorhanden", sagte der Agent Krupps.
"Wie denken Sie darüber!" "Jawohl, jawohl", antwortete der Agent von Schneider, aus Höflichkeit auf deutsch. "Ich denke auch. Wir jedenfalls werden uns in Genf nicht streiten."
"Also teilen wir auf", schloß der Krupp-Agent. "In welchen Artikeln sind Sie besonders stark?" "In 65 mm, 75,155 Schnellfeuer, 270 und 380 bin ich bestimmt nicht zu schlagen", antwortete der Franzose. "Und Sie?" "In 88 mm, 105, 130, 210,420 können Sie, glaube ich, wieder mit uns nicht konkurrieren", antwortete der Deutsche.
"Also abgemacht!" "Abgemacht! Und um Ihnen unsere Loyalität zu beweisen, teile ich Ihnen mit: Bulgarien und Rumänien beabsichtigen, ihre leichte Artillerie zu verbessern. Mit denen werden Sie sicher ins Geschäft kommen. Aber mit Bulgarien nehmen Sie sich in acht: sein Kredit wackelt."
"Das nehme ich zur Kenntnis. Kümmern Sie sich Ihrerseits um die Türkei und Italien. Die brauchen schwere Artillerie für ihre Festungen."
Seit achtundvierzig Stunden hatten diese beiden Agenten bereits nützliche Besprechungen gehabt und einige ermutigende Schecks eingesteckt. Die Verhandlungen der Konferenz selbst kamen weniger leicht voran. Aber es waren bereits fünf oder sechs erstklassige Reden gehalten worden, mit sehr idealen, sehr überlegen auf die internationale Resonanz abgestimmten Gesichtspunkten. Die Rede von französischer Seite stand unmittelbar bevor.
Am 19. September 1923 nachts gelangte ein Chiffretelegramm nach Genf, das sich auf die stürmischen Zwischenfälle in Clochemerle bezog. Sobald es entziffert war, begab sich der Sekretär eilends ins Appartement des Ministerpräsidenten, um ihm sofort Kenntnis davon zu geben. Der Regierungschef las die Botschaft zweimal und ein drittes Mal laut. Dann wandte er sich an einige seiner gerade anwesenden Mitarbeiter: "Verflucht noch mal, wegen einer solchen Geschichte könnte sogar mein Kabinett auffliegen. Ich muß sofort nach Paris zurück."
"Und die Konferenz, Herr Ministerpräsident?" "Ganz einfach: die torpedieren Sie. Denken Sie sich was aus, aber rasch. Die Abrüstung kann warten: das tut sie schon seit fünfzigtausend Jahren. Aber Clochemerle wartet nicht, und wie ich diese Idioten in Paris kenne, jagen sie mir binnen vierundzwanzig Stunden eine Interpellation auf den Hals."
"Vielleicht, Herr Ministerpräsident", schlug der Chef der Sachverständigen vor, "gibt es eine Möglichkeit, alles zu arrangieren. Übergeben Sie Ihren Plan dem Herrn Außenminister. Er wird den französischen Gesichtspunkt vertreten, und wir werden ihn aufs beste unterstützen."
"Sie sind wohl nicht ganz klar im Kopf?" sagte der Ministerpräsident kühl. "Glauben Sie, ich habe mehr als vier Wochen über meinem Plan geschwitzt, damit sich jetzt Rancourt auf meine Kosten einen persönlichen Erfolg daraus schneidert? Für einen Sachverständigen sind Sie - verzeihen Sie den harten Ausdruck - etwas naiv."
Quelle:
"CHLOCHEMERLE"
Titel der französischen Originalausgabe: CLOCHEMERLE
Deutsch von Roland Schacht
Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung von Presses Universitaires
de France, Paris, und des S.Fischer Verlages, Frankfurt (Main) (deutsche Übersetzung)
Alle Rechte vorbehalten
Die Romanzeitung erscheint monatlich / Heft 8/1978
Redaktion: 108 Berlin, Glinkastr. 13-15 / Verlag Volk und Welt
Redakteur: H.D.Tschörtner / Umschlag: Klaus Müller
Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin
Lizenz-Nr.: 410/200/78 / Autorenfoto: PUF
Artikel-Nr. (EDV): 22538
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