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"Geschichten aus der einen und der anderen Tasche"


Karel Capek

Die blaue Chrysantheme


Nun, so will ich Ihnen erzählen, wie die Klara zu diesem Namen gekommen ist. Ich habe seinerzeit den Fürst Lichtenbergschen Park in Lubenz angelegt - der alte Fürst wußte schon Bescheid! Ganze Bäume ließ er sich von Veitsch aus England schicken, allein an Zwiebeln hatte er aus Holland siebzehntausend Stück bezogen; doch das nur so nebenbei.
Eines Sonntags gehe ich in Lubenz durch die Straßen, und dabei begegne ich der Klara, einem taubstummen verrückten Weib im Dorfe; wo immer sie ging, kreischte sie vor Wonne - wissen Sie vielleicht, warum die Verrückten immer so selig sind? Ich weiche ihr aus, damit sie mich nicht küßt. Da merke ich, daß sie einen Blumenstrauß in den Händen hält, es war Dill und ähnliches Feldkraut, aber dazwischen, Herr ich habe schon allerhand gesehen, doch damals hätte mich fast der Schlag gerührt: die Verrückte trug in ihrem Strauß die Blüte einer Pomponchrysantheme, die blau war, Herr! Blau! Etwa so blau wie Phlox Laphami, bläulich angehaucht, mit atlasrosa Rändern, innen herrlich gefüllt wie die Campanula turbinata, aber das alles ist noch nichts: Herr, diese Farbe war damals und ist auch heute noch bei der perennierenden indischen Chrysantheme ganz unbekannt!

Ich war vor Jahren beim alten Veitsch gewesen; Sir James hatte mir gegenüber geprahlt, daß bei ihnen im Vorjahr ein Chrysanthemum, aus China importiert, zartlila geblüht habe, im Winter jedoch eingegangen sei. Und hier hält diese kreischende Alte ein Chrysanthemum in ihren Händen, in einem Blau, von dem man nur träumen kann. Köstlich, was? Also diese Klara jauchzte vor Freude und streckte mir den Strauß entgegen. Ich schenkte ihr ein Kronenstück und wies auf das Chrysanthemum: "Klara, wo hast du das her?" Klara schwatzte und kicherte, sonst bekam ich nichts aus ihr heraus. Ich schrie sie an, gestikulierte mit den Händen, es half alles nichts, sie wollte mich um jeden Preis umarmen. Ich eilte nun mit der kostbaren Chrysantheme zum Fürsten. "Hoheit, das wächst hier irgendwo in der Umgebung, wir brauchen nur zu suchen!" Der Alte ließ daraufhin sofort anspannen und befahl, Klara mitzunehmen. Klara war jedoch inzwischen verschwunden und unauffindbar. Wir standen beim Wagen und schimpften eine Stunde lang - der Fürst war nämlich früher bei den Dragonern gewesen! Wir waren mit dem Geschimpfe noch nicht fertig, da kam Klara mit heraushängender Zunge angerannt und drängte mir einen ganzen Strauß frischgepflückter Chrysanthemen auf. Der Fürst gab ihr eine Hundertkronennote, aber Klara begann vor Enttäuschung zu weinen, die Arme hatte noch nie zuvor einen Hunderter gesehen. Ich mußte ihr eine Krone geben, um sie zu beruhigen. Sie fing an zu hüpfen und zu schreien, wir setzten sie kurzerhand auf den Kutschbock, zeigten auf die blauen Chrysanthemen, und nun, Klara, führe uns!

Klara kreischte vor Freude auf dem Kutschbock, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie Seine Hochwohlgeboren, der Kutscher, verärgert war, daß er neben ihr sitzen mußte. Sogar die Pferde scheuten jeden Augenblick bei dem Gequietsche und Gekrächze, nun, es war eine verteufelte Fahrt. Als wir eineinhalb Stunden unterwegs waren, sagte ich zum Fürsten, wir hätten bereits vierzehn Kilometer zurückgelegt. "Einerlei", brummte die Durchlaucht, "meinetwegen hundert." "Na, auch gut", entgegnete ich, aber die Klara war mit dem Strauß in einer Stunde zurück. Die Stelle kann also nicht weiter als drei Kilometer von Lubenz entfernt sein.
"Klara", schrie der Fürst und wies auf die blauen Chrysanthemen, "wo wächst das? Wo hast du das gefunden?"
Klara krähte vor Vergnügen und zeigte immerfort geradeaus. Sie war offenbar glücklich, in einem Wagen zu fahren; Sie dürfen mir glauben, ich dachte nicht anders, als der Fürst erschlägt sie; großer Gott, konnte der wütend werden! Von den Pferden tropfte der Schaum. Klara schnatterte, der Fürst fluchte, der Kutscher vergoß fast Tränen vor Schande, und ich überlegte, wie man die blauen Chrysanthemen aufspüren könne. "Durchlaucht", sagte ich," auf die Weise geht es nicht. Wir müssen ohne Klara weitersuchen. Wir zeichnen mit einem Zirkel auf der Landkarte einen Umkreis von drei Kilometern, teilen das Ganze in Abschnitte ein und suchen Haus für Haus ab." "Mensch", antwortete der Fürst, "drei Kilometer von Lubenz gibt es doch keinen Park!"

"Das ist schon wahr", entgegnete ich. "Aber in einem Park würden Sie auch nichts finden, höchstens Ageratum oder Canna. Da, schauen Sie her, hier unten am Stengel ist ein wenig Erde; kein Humus, sondern lehmige Erde, möglicherweise noch mit menschlichem Dingsda gedüngt. Wir müssen einen Ort ausfindig machen, wo es viele Tauben gibt; die Blätter sind nämlich voll Taubenmist. Höchstwahrscheinlich wächst es bei einem Zaun aus ungehobelten Latten, denn hier am Blattende ist ein winziger Splitter von einer Fichtenrinde. So, das wäre ein Anhaltspunkt." "Was wäre es?" fragte der Fürst. "Ich meine, ein Anhaltspunkt, wir müßten im Umkreis von drei Kilometern jedes Bauernhaus absuchen; dazu teilen wir uns in vier Gruppen: Sie, ich, Ihr Gärtner und mein Gehilfe Wenzel", sagte ich.
Dabei war es am anderen Morgen das erste, daß mir Klara wieder einen Strauß blauer Chrysanthemen brachte. Daraufhin durchforschte ich meinen Abschnitt, trank in jedem Gasthaus lauwarmes abgestandenes Bier, aß Quargeln und horchte die Leute nach blauen Chrysanthemen aus. Herr, erinnern Sie mich nicht an den Durchfall, den ich nach den Quargeln bekam, dazu war eine Wärme wie des öfteren gegen Ende September. Ich kroch in jedes kleinste Anwesen, mußte mir allerhand Grobheiten sagen lassen, denn die Leute nahmen an; ich sei entweder ein Verrückter, ein Spitzel oder einer von der Behörde. Aber eines stand am Abend fest: in meinem Abschnitt wuchs keine blaue Chrysantheme; in den anderen Abschnitten wurde auch nichts gefunden. Nur Klara brachte erneut einen Strauß Chrysanthemen. Sie können sich vorstellen, wie mächtig, alles in allem genommen, so ein Fürst ist; er ließ Gendarmen rufen, reichte jedem eine blaue Chrysantheme und versprach ihnen wer weiß was, wenn sie herausfänden, wo sie gedeiht.

Gendarmen, mein Herr, sind gebildete Menschen, sie lesen Zeitungen und anderes, außerdem kennen sie jeden Stein und haben gewaltigen Einfluß. Und nun stellen Sie sich vor, dass sechs Gendarmen, der Polizist, die Gemeindevorsteher, die Schuljugend mit ihren Lehrkräften und eine Zigeunerbande die Gegend im Umkreis von drei Kilometern durchkämmten, alles abpflückten, was irgendwo blühte, und es ins Schloß trugen. Weiß Gott, dort sah es wie zu Fronleichnam aus; aber eine blaue Chrysantheme war nicht dabei. Die Klara ließen wir tagsüber bewachen; in der Nacht floh sie, und nach Mitternacht brachte sie mir einen Arm voll blauer Chrysanthemen. Wir ließen sie sofort in den Gemeindekarzer sperren, damit sie uns nicht alles wegpflückte; doch damit waren wir am Ende. Wahrhaftig, es blieb wie verhext, stellen Sie sich nur vor, eine Gegend wie ein Handteller . . .

Ich meine, der Mensch hat ein Recht, grob zu sein, wenn er sich in großer Not befindet oder einen Mißerfolg hat, das kenne ich; aber als mir der Fürst in seinem Zorn sagte, ich sei genauso ein Idiot wie die Klara, da antwortete ich nur, daß ich mich von so einem Trottel nicht beleidigen ließe, und ging schnurstracks zur Bahn; und seitdem bin ich nie wieder in Lubenz gewesen. Als ich schon im Wagen saß und der Zug losfuhr, begann ich zu heulen wie ein kleiner Junge, weil ich nie mehr eine blaue Chrysantheme zu Gesicht bekommen würde und sie nun für immer aufgegeben hatte.

Wie ich so nachdenklich zum Fenster hinausblicke, sehe ich unmittelbar an der Strecke etwas Blaues leuchten. Herr Capek, es war stärker als ich: es warf mich vom Sitz, ich zog an der Notbremse - mir war das gar nicht bewußt geworden. Der Zug hielt ruckartig an, und ich flog auf den Sitz gegenüber - dabei hab ich mir diesen Finger gebrochen. Als der Schaffner gelaufen kam, stotterte ich, daß ich irgend etwas in Lubenz vergessen hätte, und mußte gehörig Strafe zahlen. Herr, ich habe wie ein Rohrspatz geschimpft! Dann bin ich die Strecke zurückgehinkt, zu dem Blauen. Du Trottel, sagte ich zu mir, vielleicht ist es nur eine Herbstaster oder sonst ein blaues Unkraut, und du wirfst dafür so unnütz viel Geld hinaus! Ich schritt an die fünfhundert Meter und dachte, das Blaue schien doch gar nicht so weit zu sein, und ich hätte es übersehen, als ich auf einer kleinen Anhöhe ein Bahnwärterhäuschen gewahrte,
wo das Blaue über den Gartenzaun ragte. Es waren zwei Stauden blauer Chrysanthemen.

Herr, jedes Kind weiß, was diese Bahnwärter in ihren kleinen Gärten züchten. Außer Wirsingkohl und Melonen sind es zumeist Sonnenblumen, ein paar rote Rosen, Malven, Tropaeolum und die eine oder andere Georgine; dieser Kerl da hatte nicht einmal das, sondern nur Kartoffeln und Bohnen, einen schwarzen Holunder und in der Ecke zwei blaue Chrysanthemen. Menschenskind, rief ich ihm über den Zaun zu, ,wo haben Sie denn diese blauen Blumen her?'

"Die blauen", meinte der Bahnwärter, "ja, die sind noch vom seligen Cermäk, der mein Vorgänger war. Aber die Strecke entlang darf man nicht gehen, mein Herr." Dort steht die Tafel: "Das Betreten der Bahnstrecke ist untersagt!" "Was suchen Sie eigentlich hier?" ,"Guter Mann, wollen Sie mir nicht sagen, wie man zu Ihnen gelangt?". "Die Strecke entlang, aber hier hat niemand Zutritt", entgegnete der Wärter. "Was wollen Sie da? Schauen Sie, dass Sie verschwinden, Sie verdammter Kerl, die Strecke dürfen Sie mit keinem Fuß betreten!"
"Aber wohin soll ich denn verschwinden ?" ,"Das ist mir gleichgültig", brüllte der Bahnwärter, "aber keinesfalls die Strecke entlang, und damit basta!" Ich setzte mich also an den Wiesenrain und sagte: "Hören Sie, Alter, verkaufen Sie mir die blauen Blumen." ,"Nichts verkaufe ich", knurrte der Wärter, "und verschwinden Sie, hier ist das Sitzen verboten." "Warum", fragte ich, "es steht doch auf keiner Tafel, dass man hier nicht sitzen darf. Es ist nur verboten, hier zu gehen, und ich gehe doch nicht." Der Bahnwärter stutzte und beschränkte sich darauf, mich über den Gartenzaun hinweg zu beschimpfen. Er war wohl ein Sonderling; nach einer gewissen Zeit hörte er damit auf und führte Selbstgespräche. Und etwa eine halbe Stunde danach kam er heraus, um die Strecke zu begehen.

"Also, was ist los", sagte er und pflanzte sich vor mir auf, "verschwinden Sie von hier oder nicht ?" ,"Ich kann doch nicht", antwortete ich, "an der Strecke gehen ist verboten, und sonst führt kein anderer Weg von hier fort."
Der Bahnwärter überlegte eine Weile. "Na, wissen Sie was", meinte er dann, "wenn ich hinter die Böschung einbiege, verschwinden Sie die Strecke entlang, ich werde nichts sehen."
Ich dankte ihm herzlich, und als er hinter die Böschung einbog, stieg ich über den Gartenzaun und grub mit seinem Spaten die beiden blauen Chrysanthemen aus. Ich habe sie gestohlen, Herr. Ich bin eine ehrliche Haut und habe in meinem ganzen Leben nur siebenmal gestohlen; immer waren es Blumen. Eine Stunde danach saß ich im Zug und brachte die entwendeten blauen Chrysanthemen nach Hause. Als ich an jenem Bahnwärterhäuschen vorbeifuhr, stand der Wärter mit seinem Fähnlein vor der Tür und machte ein Gesicht wie der Leibhaftige. Ich winkte ihm mit dem Hute zu, doch ich nehme an, daß er mich nicht erkannt hat.

Sehen Sie, mein Herr, weil da eine Tafel mit der Aufschrift stand "Verbotener Weg", war es keinem eingefallen, weder uns noch den Gendarmen, weder den Zigeunern noch den Kindern, dort die blauen Chrysanthemen zu suchen. Herr, so eine Wirkung übt eine Warnungstafel aus. Es ist also möglich, daß bei einem Bahnwärterhäuschen blaue Himmelschlüssel wachsen oder der Baum der Erkenntnis oder goldenes Farnkraut, doch kein Mensch wird sie ausfindig machen, denn es ist ja verboten, die Strecke entlangzugehen, und damit basta! Nur die verrückte Klara war hingekommen, weil sie ein Idiot ist und nicht lesen kann. Und deshalb habe ich die blaue Pomponchrysantheme auf den Namen Klara getauft. Schon fünfzehn Jahre experimentiere ich mit ihr herum, aber wahrscheinlich habe ich sie durch guten Boden und Feuchtigkeit verweichlicht - der Grobian von einem Bahnwärter hat sie niemals begossen, und dort hatte sie Lehmboden, so zäh wie Zinn, kurzum, im Frühjahr sprießt sie, im Sommer bekommt sie Mehltau, und im August geht sie mir ein.

Nun stellen Sie sich vor, ich allein auf der ganzen Welt besitze die blaue Chrysantheme und kann dabei mit ihr nicht vor die Öffentlichkeit treten. Ja, Bretagne und Anastasia, die leuchten nur ganz wenig lila; aber die Klara, Herr, wenn mir die Klara einmal blühen sollte, würde die ganze Welt von ihr reden."

1928


Quelle:

"Geschichten aus der einen und der anderen Tasche"
Karel Capek
Povidky z. jedne kapsy
Povidky z druhe kapsy
Aus dem Tschechischen übersetzt
von Grete Ebner-Eschenhaym
Geschichten aus der einen und der anderen Tasche
Alle Rechte vorbehalten o Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
5. Auflage
Printed in the German Democratic Republic o Lizenz-Nr. 501. 120/161/72
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(Wolfgang Hennig)
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