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"DER GUTE IST IMMER DER GÄRTNER"


Naturerlebnisse können Kriminelle resozialisieren, psychisch Kranke heilen und Neurosen vorbeugen.
In Großstädten der USA wurde deshalb die Gartentherapie entwickelt

VON WOLFGANG SCHMIDBAUER


Das Gärtneralter setzt in der Regel um die 35 ein, in einer Zeit, in der viele Menschen nicht nur eine erste Ahnung von der Begrenztheit ihres Lebens gewinnen, sondern sich auch tiefer vom grünen Genius des Wachstums, vom Wechsel der Jahreszeiten und den Geheimnissen der Vegetation beeindrucken lassen. Heute sind die geburtenstarken Jahrgänge im Gärtneralter. Die Folge: Gärtnern ist bei weitem die beliebteste Freizeitaktivität. Gärtnern ist, anders als Skifahren oder Drachensegeln, Golf und Mountainbiking, eine Wohltat für Körper und Seele.
Der Blick ins Grüne ist eine der Gesundheitsbedingungen, deren Bedeutung erst dann erforscht wird, wenn wir sie zu verlieren drohen. Wir wissen heute, dass das menschliche Stressniveau durch die Abwesenheit von Pflanzen steigt, während wir uns in ihrer Anwesenheit entspannen.
Dazu genügt buchstäblich der Blick auf Baum, Busch und Wiese vor dem Fenster. In einem Krankenhaus in Pennsylvania (USA) wurde das Befinden von Patienten nach einem chirurgischen Eingriff untersucht. Jene, die in Zimmern mit einem schönen Blick auf den Krankenhausgarten lagen, erholten sich nicht nur schneller, sie waren auch freundlicher zum Pflegepersonal.

Vielleicht noch eindrucksvoller ist der Grünzauber in jenen amerikanischen Gefängnissen, in denen durch aufgeschlossenes Personal und das Engagement des amerikanischen Verbandes der Gartenvereine die Gefangenen mit Pflanzen arbeiten können. Manche erhalten ein eigenes Beet, produzieren für sich und andere Gemüse oder Blumen - eine überraschende Erfahrung für Slumkinder, die als erste Grünpflanze das Salatblatt im Hamburger zu Gesicht bekommen haben. Manche Gefängnisgärten sind so groß, dass die Häftlinge, wie im San Francisco CountyJail, für den Bedarf der Anstalt ernten können eine Quelle ehrlich verdienten Selbstvertrauens für Menschen, die sich zuvor mit Diebstählen und Überfällen über Wasser halten wollten.
Wer in der Schule des Gefängnisses soviel Spaß an der Sache gewonnen hat, dass er auch nach seiner Entlassung gärtnern möchte, kann das in San Francisco in einer eigenen Anlage tun und findet sogar Hilfe beim Absatz seiner Produkte.
Selbst wenn der frühere Street-Junkie nur lernt, auf einem Stück Land sein eigenes Marihuana anzubauen, ist schon etwas gewonnen: Wer zum Spaten greift, um Trost zu finden, greift nicht zum Revolver. Winzer, Bierbrauer, Schnapsbrenner oder Marihuana-Raucher, die sich ihre Räusche gärtnerisch erarbeiten, sind vor den destruktiven Entwicklungen der Sucht geschützt. Psychologen haben deshalb vorgeschlagen, reine Selbstversorger auch im Drogenbereich nicht mehr zu kriminalisieren. Der Verlust eines selbstverständlichen, sinnlichen Verhältnisses zu Pflanzen hat seelische Folgen.
Wo Menschen ständig ohne Grün leben, leidet ihr soziales Verhalten. Sie werden ungeduldig und aggressiv, neigen zu Vandalismus. Wenn diese Stimmung einen Menschen erst einmal beherrscht, beruhigen ihn auch Pflanzen nicht mehr: Er trampelt in die Tulpenbeete und wirft die Ruhesessel in den Teich.

In einem einleuchtenden Versuch hat der amerikanische Sozialpsychologe Philip G. Zimbardo jeweils ein älteres Auto in einem gartenlosen Großstadtviertel und in einer grünen Vorstadt abstellen und beobachten lassen. Das Nummernschild fehlte, die Motorhaube war nicht verriegelt, die Tür nicht ab gesperrt. In der Großstadtstraße dauerte es keinen Tag, und der herrenlose Wagen war ausgeplündert und weitgehend zerstört. Passanten traten gegen die Türen, rissen etwas ab, urinierten gegen das Wrack oder zertrümmerten eine Scheibe. In der grünen Vorstadt stand der Wagen nach einer Woche noch so da, wie Zimbardo ihn hatte abstellen lassen. Nur ein Passant berührte ihn. Er drückte bei Regenwetter die nicht verschlossene Motorhaube zu.
Überall in den USA haben sich die in den Vorstädten beheimateten finanziell gut ausgestatteten Gartenbauvereine mit Sozialarbeitern und örtlichen Politikern zusammengetan, um Grünprogramme für die Slums zu fördern. An der staatlichen Universität von Kansas im amerikanischen Mittelwesten gibt es eine vierjährige Ausbildung in Horticultural Therapy - in Gartentherapie.
Grün heilt nicht alle Wunden, die in desolaten Vierteln aufbrechen, aber es verbessert doch das Lebensgefühl derer, die sich damit beschäftigen. Nachbarn, die in einem Wohnblock einen gemeinsamen Garten einrichten wollen, werden in den USA juristisch und gärtnerisch beraten. Sie erhalten Erde, Zäune, Pflanzen und Werkzeug. Jedes Jahr bearbeitet beispielsweise das Projekt Philadelphia Green Hunderte von Anfragen. Ein ähnliches Projekt bietet der botanische Garten von New York: "Bronx Green Up". Die Gärten in den Slums finden wie von selbst engagierte Hüterinnen und Hüter, die Autowracks entsorgen, Müll wegräumen, Unkraut jäten und Sitzecken sauber halten. Wo sich bisher die Drogendealer vor der Polizei versteckten, werden Hochbeete angelegt, in denen Zucchini und Auberginen wachsen.

Schon immer hatten die großen Psychiatrien in Europa ausgedehnte Gärten und Gewächshäuser. Als sie entstanden, im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dienten sie zur Arbeitstherapie als Strategie der Selbstversorgung. Der therapeutische Wert dieser oft in schönen Landschaften, Klöstern oder Schlössern untergebrachten Anstalten wurde oft nicht geachtet. Erst in jüngerer Zeit wurde Garten- und Waldarbeit als Mittel zur Therapie in der langwierigen und mühsamen Rehabilitation von Drogensüchtigen entdeckt. Auch dabei sind die USA Vorreiter: Dort leistet das Friends Hospital in Philadelphia Pionierarbeit, eines der ältesten Krankenhäuser Amerikas und das erste, in dem ein Gewächshaus gebaut wurde, um eine therapeutisch wirksame Umwelt zu schaffen-. Es wird heute in der Therapie von Depressiven, aber auch für Alkoholiker und Drogensüchtige genutzt. ,,Was für ein Ort, um Hanf anzubauen", entfuhr es einem der Patienten beim ersten Anblick der Pflanzenwelt.
In den Behandlungsräumen wird auch mit dem Geruch von Blüten gearbeitet. Denn Gerüche wirken besonders stark auf das Gefühlsleben und auch auf das Erinnerungsvermögen. Sie bringen verschüttete Erinnerungen aus der Kindheit zurück, sie sind ein Schlüssel zu verborgenen Kräften, die den Patienten helfen, sich mit ihren Symptomen auseinander zu setzen.
Naturferne und Entfremdung von den Zyklen der Vegetation steigern die Gefährdung für seelische Erkrankungen. Eine der ersten Untersuchungen, die das alarmierend klargemacht haben, war die Midtown Manhattan Study von Leo Srole, einem amerikanischen Psychiater und Epidemiologen, der Stichproben der New Yorker Bevölkerung untersuchte und herausfand, dass weniger als 20 Prozent der Großstadtbevölkerung völlig frei von Symptomen psychischer Belastung waren. 23,4 Prozent litten an schweren, behandlungsbedürftigen seelischen Störungen

Schon heute sterben in den Industrieländern mehr Menschen an Selbstmord als an Verkehrsunfällen. Suizid ist meist das Ergebnis einer Depression. In naturnahen Umwelten, etwa in afrikanischen Dörfern, sind Depressionen unbekannt, während andere psychiatrische Leiden wie die Schizophrenie durchaus (mit kulturtypisch abgewandelten Symptomen) vorkommen. Nun sind das Hinweise, keine Beweise. Mit solchen Korrelationen muss man vorsichtig sein; es gibt auch eine Korrelation zwischen der Zahl der Storchennester und der Zahl der Geburten in einer Region. Sie sagt nicht, dass der Storch die Kinder bringt, sondern nur, dass dieselben Einflüsse, welche dem Storch seine Biotope rauben, auch die Bereitschaft von Frauen und Männern mindern, Kinder zu zeugen.
Sicher ist: In die Natur zu gehen, an ihr in irgend einer Form teil zuhaben, ist eine wesentliche Entlastung, sie kann negative Beziehungs- und Elternerfahrungen ausgleichen und zum Beispiel verhindern, dass Kränkung und Aggression gegen die eigene Person zur Selbstzerstörung führen. Freilich sind Naturerlebnisse kein Ersatz für eine Therapie. Auch die schönste Natur wird schrecklich, sobald die Möglichkeit einer positiven Beziehungserfahrung nicht mehr im Erleben eines Kranken vorhanden ist. Schwer gestörte Personen, Kranke mit Borderline-Störungen oder Psychosen, sind vielfach nicht in der Lage, die Natur als Teil einer guten Umwelt zu akzeptieren.
Das Naturerleben hat eine Hintergrundfunktion, die ein Vers von Hans Carossa erfaßt:
,,Wir hören nicht, wenn Gottes Weise summt. Wir schaudern erst, wenn sie verstummt."

Den meisten Menschen ist die Natur so selbstverständlich, dass sie keinen Pfennig für sie ausgeben wollen und erst protestieren, wenn die Trasse der Schnellstraße durch ihr Grundstück gelegt wird. Und denen, die sie als Kinder nicht mehr kennen lernen und nicht mit ihr vertraut werden durften, ist die Natur oft unheimlich, es stört sie nicht mehr, wenn sich die Artenvielfalt vermindert und Wälder asphaltiert werden, weil sie ohnehin mit der grünen Vielfalt nichts anfangen können und der Asphalt ihnen vertrauter ist als das Biotop.

Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen hinein, den er gemacht"
Bibel
1. Mose 2,8

Wolfgang Schmidbauer
ist Psychoanalytiker und Autor; er lebt in München.

zuletzt erschien von ihm: "Die heimliche Liebe. Ausrutscher, Seitensprung, Doppelleben"