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'Insel der Pinguine'
Anatol France
Auf das Buch "Die Insel der Pinguine" sind wir gestoßen, als wir uns mit dem Buch "Ein vernunftbegabtes Tier" von Robert Merle befaßt haben.
Zusammen mit Elsa Triolets "Das Rote Pferd", Karel Capecks "Krieg der Molche" wird Anatol France und seinem Werk "Insel der Pinguine" bescheinigt, eines der literarischen Vorbilder für Robert Merles "Ein vernunftbegabtes Tier" zu sein.
Wir haben beim Lesen der "Insel der Pinguine" etliche Stellen gefunden, welche direkte und beklemmende Parallelen zu Ereignissen der heutigen Zeit in sich tragen.
Drittes Kapitel
Begrenzung der Felder und Ursprung des Eigentums
"Die Insel sah nicht länger so holprig aus wie damals, als sie zwischen schwimmenden Eis in einem Amphitheater von Felsen ein Vogelvolk beherbergte. Ihr schneeiger Gipfel war eingesunken, und nur ein Hügel war noch da, von dessen Höhe man Armorikas Küsten entdeckte, in ewigen Nebelschleiern, und den Ozean, der mit finsteren Klippen besät war, wie mit Ungeheuern, die über dem Abgrund sich halb aufgerichtet hatten.
Der Insel Ufer waren jetzt sehr ausgedehnt und ausgebuchtet, und ihre Gestalt erinnerte an das Blatt des Maulbeerbaumes. Plötzlich wuchs salziges, den Herden willkommenes Gras, es sprossen Weiden, alte Feigenbäume und hohe Eichen. Den Vorfall bezeugen Beda Venerabilis und mehrere glaubwürdige Autoren sonst.
Im Norden bildete das Ufer eine wilde Bai, die später einer der weltberühmtesten Häfen der Welt wurde. Im Osten erstreckte sich vor einem steinigen Küstengebiet, gegen das schäumend das Meer sich wälzte, eine öde, duftende Heide. Dies war das Gestade der Schatten, wohin die Inselbewohner sich niemals wagten, aus Furcht vor den Schlangen, die in den Felslöchern nisteten, und aus Angst, dort die Seelen der Toten in Gestalt bläulicher Flammen zu treffen. Im Süden begrenzten Obstgärten und Wälder die warme Bucht der Meertaucher. Auf diesem Glücksgestade baute der Greis eine Kirche und ein hölzernes Kloster. Im Osten benetzten zwei Bäche, Clange und Surelle, die fruchtbaren Täler der Steinfliesen und der Domben.
An einem Herbstmorgen nun sah der selige Mael, der mit einem Mönch von Yvern, namens Bulloch, das Tal der Clange durchwandelte, über den Weg Rotten von wildscheuen Menschen gehn, die Steine mit sich führten. Und sogleich hörte er von überall Schreie und Klagen aus dem Tal zum ruhigen Himmel dringen. Und er sprach zu Bulloch: ,,Zu meiner Trauer gewahre ich, mein Sohn, daß die Inselbewohner, seit sie Menschen geworden sind, mit geringerer Weisheit handeln denn früher. Als sie Vögel waren, zankten sie sich nur in der Jahreszeit der Liebe. Und jetzt streiten sie immerzu. Sommer und Winter sind sie aufeinander erbost. Wie sehr sind sie von jener friedlichen Hoheit abgefallen, die auf der Versammlung der Pinguine lagerte und sie dem Senat einer weisen Republik ähneln ließ.
Blicke, mein Sohn Bulloch, nach der Surelle hin. Just sind in dem kühlen Tal ein Dutzend Pinguinenmänner beschäftigt, einander mit Spaten und Hacken zusammenzuhauen, mit denen sie besser die Erde aufgraben würden. Doch grausamer noch als die Männer zerreißen die Weiber mit ihren Nägeln das Gesicht der Feinde. Weh, mein Sohn Bulloch, warum morden sie also?"
,,Aus Genossenschaftsgeist, mein Vater, und in Ahnung der Zukunft", erwiderte Bulloch. ,,Denn der Mensch ist einem Wesen nach ahnungsvoll und gesellig. So ist nun einmal sein Charakter. Ohne eine bestimmte Aneignung von Dingen kann er selbst sich nicht vorstellen. Die Pinguine, die Ihr seht, Meister, eignen sich Ländereien an."
,,Könnten sie das nicht minder gewaltsam tun?" fragte der Greis. ,,Mitten im Kampf tauschen sie Schimpf und Drohung. Ihre Worte kann ich nicht unterscheiden. Dem Ton ist zu entnehmen, daß sie zornig sind."
,,Wechselseitig klagen sie sich des Diebstahls und des Raubes an", erwiderte Bulloch. ,,Dies ist der allgemeine Sinn ihrer Reden."
Da stieß der fromme Mael, die Hände ringend, einen großen Seufzer aus und rief:
,,Siehst du nicht, mein Sohn, diesen Rasenden, der mit den Zähnen die Nase seines hingeschleuderten Gegners zerbeißt, und den dort, der eines Weibes Kopf unter einem riesigen Stein zermalmt!"
,,Ich sehe sie", antwortete Bulloch. ,,Sie schaffen das Recht. Sie gründen das Eigentum. Sie errichten die Prinzipien der Zivilisation, den Unterbau der Gesellschaft, die Grundlagen des Staates."
,,Wieso denn?" fragte der Greis Mael.
,,Indem sie ihre Fluren abgrenzen. Das ist der Ursprung jeder Polizei. Eure Pinguine, Meister, vollziehen die erhabenste Tätigkeit. Ihr Werk wird die Jahrhunderte hindurch von den Gesetzesforschern geweiht, von den Behörden geschützt und bekräftigt werden."
Während der Mönch Bulloch diese Worte sprach, stieg ein großer weißhäutiger, rothaariger Pinguin ins Tal hinab,
einen Baumklotz auf der Schulter. Er näherte sich einem kleinen, in der Sonne völlig verbrannten Pinguin, der
seinen Lattich bewässerte, und schrie ihn an:
,Dein Feld gehört mir!"
Und als er dieses machtvolle Wort verkündet hatte, hieb er mit seiner Keule auf den Schädel des kleinen Pinguins, der tot niederfiel über den von seinen Händen gepflegten Acker.
Bei diesem Anblick schauderte es den frommen Mael am ganzen Leib, und er vergoß stürzende Tränen.
Und mit einer Stimme, die Grauen und Angst erstickten, sandte er zum Himmel das Gebet:
,,Mein Gott, Herr, der du des jungen Abel Opfer empfangen, der du Kain verflucht hast, räche, o Herr, diesen unschuldigen, auf seinem Felde hingeschlachteten Pinguin und gib dem Mörder deines Armes Wucht zu fühlen! Ist ein Verbrechen hassenswerter, kann etwas deine Gerechtigkeit schwerer beleidigen als dieser Mord und dieser Diebstahl?"
,,Nehmt Euch in acht, mein Vater", sprach Bulloch sänftiglich. ,,Was Ihr Mord und Diebstahl nennt, sind in Wahrheit Krieg und Eroberung, die geheiligten Fundamente der Kaiserreiche, die Quellen aller menschlichen Tugend und Größe. Bedenkt zumal, daß Ihr, wenn Ihr den großen Pinguin tadelt, das Eigentum in seinem Ursprung und in seinem Prinzip angreift. Unschwer kann ich Euch das beweisen. Den Acker pflegen ist ein Ding, den Acker besitzen ein zweites. Und diese beiden Dinge dürfen nicht durcheinandergebracht werden. In Sachen des Eigentums ist das Recht des ersten Besitzers unsicher und schlecht begründet. Das Recht der Eroberung hingegen ruht auf soliden Grundlagen. Es ist allein zu achten, weil es allein sich Achtung erzwingt. Des Eigentums einziger, herrlicher Ursprung ist die Gewalt. Es wird durch Gewalt geboren, durch Gewalt bewahrt. Und so weit ist diese erhaben, sie weicht nur einer Gewalt, die noch größer ist. Deshalb gebührt sich's zu sagen, daß, wer besitzt, edel ist. Und dieser große Rothaarige hat vorhin, indem er einen Ackersmann tötete, um ihm sein Feld zu rauben, auf Erden ein sehr edles Haus begründet. Ich gehe und wünsche ihm Heil." Hierauf näherte Bulloch sich dem großen Pinguin, der an der blutgetränkten Ackerfurche stand und sich auf seine Keule lehnte.
Und Bulloch verneigte sich bis zum Boden und sprach:
,,Herr Greatauk, schrecklicher Fürst, ich habe Euch jetzt als dem Begründer gesetzlicher Macht und erblichen Reichtums gehuldigt. In Euer Feld verscharrt, wird der Schädel des niederen Pinguins, den Ihr erschlagen habt, für immer die geheiligten Rechte Eurer Nachkommenschaft auf diese durch Euch geadelte Erde bezeugen. Heil Euren Söhnen und Eurer Söhne Söhne! Sie werden Greatauk heißen, Herzöge von Skull, und über die Insel Alka gebieten."
Dann erhob er die Stimme und wandte sich zu Mael, dem frommen Greis.
,,Mein Vater, segnet Greatauk! Denn alle Macht kommt von Gott."
Mael blieb unbeweglich, stumm und starrte zum Himmel hinauf, er empfand schmerzlichen Zweifel an der Lehre des Mönches Bulloch. Und doch sollte diese Lehre in den Zeiten der hohen Zivilisation obsiegen. Bulloch kann damit als der Schöpfer des bürgerlichen Rechts in Pinguinien betrachtet werden.
Viertes Kapitel
Der erste pinguinische Ständetag
,,Mein Sohn Bulloch", sprach der Greis Mael, ,,wir müssen die Pinguine zählen und jedes Namen in ein Buch einzeichnen."
,,Das ist äußerst dringend", antwortete Bulloch. ,,Sonst ist eine gute Polizei nicht möglich."
Sofort ließ der Apostel mit Hilfe von zwölf Mönchen eine Volkszählung veranstalten.
Und dann sprach der Greis Mael:
,,Jetzt, wo wir ein Verzeichnis sämtlicher Einwohner haben, müssen wir, mein Sohn Bulloch, eine gerechte Steuer erheben, um die öffentlichen Ausgaben und den Unterhalt der Abtei zu bestreiten. Jeder trage nach seinen Mitteln bei. Deshalb, mein Sohn, rufe die Ältesten von Alka, im Einvernehmen mit ihnen werden wir die Steuer festsetzen."
Auf diesen Ruf hin vereinigten sich die Ältesten, dreißig an der Zahl, im Hof des hölzernen Klosters, unter der großen Sykomore. Das war der erste pinguinische Ständetag. Zu drei Vierteln bestand er aus den Großbauern von Surelle und Clange. Greatauk thronte als der Pinguine Edelster auf einem hohen Stein.
Der ehrwürdige. Mael nahm unter seinen Mönchen Platz und sprach folgendermaßen:
,,Kinder, der Herr gibt und entzieht den Menschen Reichtum, wie ihm gefällt. Nun habe ich euch versammelt, um vom Volk Steuern zu erheben, zur Bestreitung der öffentlichen Ausgaben und für den Unterhalt der Mönche. Ich schätze, daß diese Steuern dem Reichtum eines jeden gemäß sein müssen. So wird, wer hundert Ochsen hat, zehn geben, wer zehn hat einen."
Als der fromme Mann gesprochen hatte, stand Mono auf, ein Bauer von Anis am Clange, einer der reichsten Pinguine, und sagte:
,,O Mael, mein Vater, ich schätze, daß es gerecht ist, wenn jeder zu den öffentlichen Ausgaben und zu den Kosten der Kirche beiträgt. Ich für meine Person will mich zum Wohl meiner pinguinischen Brüder alles dessen entäußern, was ich besitze, und, müßte es sein, so gäbe ich frohen Mutes sogar mein Hemd. Alle Ältesten des Volkes sind wie ich bereit, ihr Hab und Gut zu opfern; und gegen ihre unbedingte Treue zum Vaterland und zum Glauben ist kein Einwand. Wir müssen also nur das öffentliche Wohl erwägen und tun, was es heischt. Nun, mein Vater, es heischt, es fordert, daß man nicht viel von denen verlange, die viel besitzen, denn dann würden die Reichen weniger reich und die Armen noch ärmer. Die Armen leben von der Reichen Gut; deshalb ist dieses Gut geheiligt. Rührt nicht daran; es wäre grundlose Bosheit. Nehmt Ihr von den Reichen, so bringt Euch das keinen großen Nutzen; denn ihrer sind nicht viele. Und Ihr würdet im Gegenteil Euch jede Hilfsquelle versperren und das Land ins Elend senken. Wenn Ihr aber von jeglichem Einwohner einen geringen Beistand verlangt, ohne sein Hab und Gut zu rechnen, so werdet Ihr genug für Euren Bedarf gewinnen, und Ihr braucht Euch nicht nach dem Besitz der Bürger zu erkundigen, die jede Nachforschung dieser Art als hassenswert und lästig betrachten würden. Wenn Ihr jedermann gleichmäßig und leicht besteuert, so schont Ihr die Armen, da Ihr ihnen die Güter der Reichen laßt. Und wie soll man die Steuer vom Reichtum abhängig machen? Gestern hatte ich zweihundert Ochsen; heute habe ich sechzig, morgen würde ich hundert haben. Clunic hat drei Kühe; doch sie sind mager. Nicclu hat nur zwei; doch sie sind fett. Wer ist reicher, Clunic oder Nicclu? Die Zeichen des Wohlstands sind trügerisch. Sicher ist nur, daß jeder ißt und trinkt. Besteuert die Leute nach dem, was sie verzehren. Das wird die Weisheit sein, die Gerechtigkeit."
So sprach Morio unter dem Beifall der Ältesten.
,,Ich verlange, daß man diese Rede auf eherne Tafeln ritzt", schrie der Mönch Bulloch. ,,Sie ist ein Vermächtnis für die Zukunft. In fünfzehnhundert Jahren werden die besten Pinguine nicht anders reden."
Die Ältesten klatschten noch, als Greatauk, die Hand auf dem Schwertknauf, die kurze Erklärung abgab:
,,Da ich edel bin, zahle ich keine Steuer. Denn Steuer zahlen ist gemein. Das Hundepack soll zahlen."
Auf diese Erklärung hin trennten sich die Ältesten schweigend.
So wie in Rom wurde alle fünf Jahre der Zensus festgelegt; und hierdurch gewahrte man, daß die Bevölkerung mit Schnelligkeit zunahm. Obwohl die Kinder in wunderbar großer Zahl starben und Hunger und Seuche mit vollkommener Pünktlichkeit ganze Dörfer verheerten, trugen immer neue und immer mehr Pinguine durch ihr privates Elend zum öffentlichen Wohlstand bei."
"..Über Anatol France sind sofort nach seinem Tode so viele Bücher erschienen, daß die Verfasser sich offenbar schon längst vorbereitet hatten auf diesen Toten. Die Franzosen waren fertiggeworden mit ihrem Meistgelesenen, er war restlos eingegangen in das Bewußtsein derer, die lesen, und sogar der Nichtleser.
Diese fühlten zumindest, das sein Name mit Recht der des Landes war; daß die Hunderttausende seiner Bücher, die jedes Jahr in die Welt gingen, ihr Land verkündeten und für es warben; daß nur er allein unter den Lebenden vollgültig die Gaben Frankreichs vertrat angesichts aller dem Unbekannten ihre Gaben darbringenden Völker...."
Heinrich Mann über Anatol France
Anatol France "Insel der Pinguine"
aus dem Französischen übertragen von Paul Wiegler
Aufbau-Verlag GmbH, Berlin W 8
1953
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