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"Die Zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein"
Ralph Giordano
Nun wissen wir also, wann nach Ansicht dieses Pfarrers im Ruhestand das große Unrecht der Weltgeschichte begann: nach jene Maientag, der den Zweiten Weltkrieg mit seinen zig Millionen Toten beendete. Daß sein Katalog eine treffliche, wenngleich sehr unvollständige und verharmlosende Aufzählung der Zustände im deutsch besetzten Europa vor dem 8. Mai 1945 sein könnte, kommt dem pensionierten Gottesmann nicht in den Sinn.
... Wir Heutigen verfügen bei der Beurteilung der Lage ja noch über eine Dimension, die sich erst später aufgetan hat, nämlich über die Erfahrungen nach 1945, von denen dieses Buch handelt, eine Periode, in der bewußt oder unbewußt demonstrierte NS-Gesinnung sich nicht mehr auf eine äußere Drucksituation herausreden konnte. Diese Erfahrungen bestätigen die Förstersche Interpretation auf geradezu fatale Weise, und sie suggerieren förmlich, daß die gesamte Nachkriegsatmosphäre und -entwicklung grundverschieden vom tatsächlichen Verlauf gewesen wäre, wenn die Segersche Auffassung zugetroffen hätte. Gerade die freiheitlichen Bedingungen in der Bundesrepublik haben auf die nachdrücklichste Weise die hohe Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten der NS-Epoche verraten.
Erst eine bestimmte Menge von beteiligten Individuen eines Volkskörpers kann die Bezeichnung "Kollektiv" rechtfertigen. Sie trifft auch dann zu, wenn Randgruppen dem nationalen Konsens nicht verfallen sind. Beide Hauptkriterien einer möglichen Kollektivschuld - das quantitative, also das Ausmaß der Zustimmung und das qualitative, das Wissen um die Staatskriminalität - lassen sich gerade an der ehrlichen Einschätzung des Widerstandsumfangs messen. Die bodenlose Verlassenheit des deutschen Widerstands gegen Hitler verdeutlicht nur noch einmal die grotesk ungleichen Proportionen zwischen Zustimmung und praktiziert Ablehnung. Auch die Zwischenschicht einer labilen, passiven Resistenz änderte an den realen Kräfteverhältnissen wenig. Und so wohnt denn allen Aufrechnungsversuchen angesichts einer - vorsichtig ausgedrückt - indifferenten Haltung der bundesdeutschen" Gesellschaft gegenüber den Widerständlern über alle Etappen ihrer Geschichte hin die Note tiefer Unwahrhaftigkeit inne. Zur Widerlegung der Kollektivschuldthese ist die Zitierung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ganz und gar untauglich.
Sehr häufig taucht die Ansicht auf, ja die Interpretation einer ganzen Schule: Das Verhalten der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg sei entscheidend geprägt worden von der durch die Alliierten erhobenen Kollektivschuldthese - genauer: durch die Westalliierten, da sich die Sowjetunion daran nie beteiligt habe. Für die Haltung der Briten wird dann gern Lord Vansittart angeführt, der die Deutschen schlechthin für moralisch und charakterlich minderwertig betrachtet habe und mit seiner hartnäckigen Abscheu Begriffe wie den "Vansittarismus" oder dessen Personifizierung "Vansittartist", gezeugt habe.
Eine westalliierte Verantwortlichkeit für das Schuldverhalten der Deutschen nach 1945 sieht zum Beispiel Barbro Eberan, eine der Bundesrepublik Deutschland lebende Schwedin, die mit ihr 1983 erschienenen Publikation "Wer war an Hitler schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945-1949" eine der umfassendsten Untersuchungen des Problems vorgelegt hat. Dabei geht die Autorin grundsätzlich von der These aus, daß den Deutschen von außen vorgeworfen wurde, sie seien alle ausnahmslos schuldig geworden. Das vor allem habe die dergestalt Angeklagten bewogen, sich sowohl mit der Individualschuld- als auch mit der Kollektivschuldthese verdrängerisch zu befassen.
Obwohl man Barbro Eberans reich dokumentierte Abhandlung hinsichtlich der darin gebotenen Informationen nur mit Gewinn lesen kann, halte ich diese Prämisse für grundfalsch. Ich berufe mich da wieder - von meinen eigenen und später zu behandelnden Erfahrungen ganz abgesehen - auf die Mitscherlichs als Kronzeugen. In "Die Unfähigkeit zu trauern" wird wohl auf die Kollektivschuldthese eingegangen, aber nirgends wird in dieser gründlichsten und deprimierendsten Durchleuchtung der deutschen Durchschnittsseele vor 1945 und während der ersten zwanzig Jahren danach irgendeine tiefere Wirkung der westalliierten Kollektivanschuldigung sichtbar. Die Verdrängung ist ohne Sonderaufwand mit ihr fertig geworden. Dazu kommt, daß die Kollektivschuldthese durch die neuen internationalen Machtkonstellationen und -rivalitäten, mit der entsprechenden Verlagerung des Feindbildes vom Nationalsozialismus auf den Kommunismus, bald schon fallengelassen wurde. Wie schnell verflog die harte Anklage doch angesichts der von westalliierter Seite erstrebten neuen Bündnisfähigkeit des größeren deutschen Teilstaates! Schon lange vor Gründung der zweiten deutschen Demokratie war von Kollektivschuld der Nation unter Hitler keine Rede mehr - aber das Verhalten gegenüber dem Schuldkomplex veränderte sich nicht im mindesten, so daß man sehr wohl den Anteil der These an diesem Verhalten bezweifeln darf.
Die verhältnismäßig kurze Dauer der Kollektivschuldanklage durch die Westalliierten könnte die Langlebigkeit der viel erfolgreicheren Gegenthese auch gar nicht erklären: nämlich der von der deutschen Kollektivunschuld unter Hitler! Danach sei nur eine "kleine Machtclique" schuldig gewesen.
Die These von der deutschen Kollektivunschuld, im Sinne einer vom Nationalsozialismus verführten, aber ansonsten gutmütigen Nation, mehr passiv geschoben als aktiv beteiligt - diese These hat in der Bundesrepublik in Wahrheit triumphiert und lebt noch in vielen als herrschende Idee. Die Ablehnung der Kollektivschuld der Deutschen unter Hitler geht immer einher mit verdächtig kollektiv klingenden Anschuldigungen gegen andere. Als exemplarisches Beispiel dafür soll hier ein Leserbrief vom Januar 1985 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" angeführt werden. Verfasser war ein Dr. Walter H., seines Zeichens Pfarrer im Ruhestand aus Worms. Anlaß gab die damals öffentlich geführte Diskussion, ob der 8. Mai 1985, die vierzigjährige Wiederkehr der deutschen Kapitulation, als Trauertag für die Opfer des Nationalsozialismus, als Tag der Befreiung, begangen werden solle oder nicht.
Da heißt es unter dem von der Redaktion ausgewählten Zitattitel "Die Behauptung der Kollektivschuld ist unhaltbar" zunächst:
"Welche Rolle hat sich die Bundesregierung in den Siegesfeiern der Alliierten zum 8. Mai 1945 zugedacht? Die Römer, deren Staatsauffassung bis heute weiterwirkt, hatten für die Siegesempfänge ihrer Feldherren ein besonderes Ritual: Sie zeigten ihre überwundnen Feinde im Triumphzug dem Volk, anschließend wurden die besiegten Könige und Heerführer erdrosselt und die gefangen Krieger als Gladiatoren an den Zirkus verkauft. So ähnlich ist es auch 1945ff. zugegangen."
Nach diesem Einblick in das Arsenal seines historischen Vergleichsbedürfnisses und der Belehrung, daß NS-Haupttäter nie ihrer Verbrechen wegen zur Verantwortung gezogen worden seien sondern weil sie das Pech hatten, besiegt zu werden, fährt Dr. Walter H. fort:
"Wer von uns den 8. Mai 1945 erlebt und erlitten hat, weiß, daß ab diesem Tag der Deutsche vogelfrei wurde. Da begannen die Willkürakte und Beraubungen aller Art, die Vertreibung von Haus und Hof, die Gewalttätigkeiten der Menschenjagd, der Hunger in den Lagern - nicht nur im Osten-, die Demontage unserer Industrie, der Diebstahl unserer Patente und so weiter..."
Nun wissen wir also, wann nach Ansicht dieses Pfarrers im Ruhestand das große Unrecht der Weltgeschichte begann: nach jenem Maientag, der den Zweiten Weltkrieg mit seinen zig Millionen Toten beendete. Daß sein Katalog eine treffliche, wenngleich sehr unvollständige und verharmlosende Aufzählung der Zustände im deutsch besetzten Europa vor dem 8. Mai 1945 sein könnte, kommt dem pensionierten Gottesmann nicht in den Sinn. Und dann geht Dr. Walter H. aus Worms in die Schlußrunde, kommt" auf unser Thema:
"Vor einer Kriminalisierung der Geschichte kann nur gewarnt werden. Daß die nationalsozialistische Staatsführung ungeheure Verbrechen begangen hat, deren schlimmstes der Judenmord war, steht leider fest. Damit jedoch den Staat als Ganzes zu belasten und seine Diener, seine Beamten, ja das ganze in diesem Staat lebende Volk als Mittäter einzustufen, ist rechtlich und moralisch falsch. Die Behauptung einer Kollektivschuld ist unhaltbar und einer Verleumdung gleichzusetzen. Wer die Geschichte, insbesondere die deutsche, als Kriminalgeschichte sieht, hat ein abartiges Geschichtsverständnis. Es gibt wohl nur wenige Staaten und Regierungen, die nicht von ihren Feinden als >verbrecherisch< bezeichnet wurden. Wollte man dem Glauben schenken, so wäre die Menschheit seit Jahrtausenden, seit der Bildung von Staaten, von Bösewichtern und Verbrechern regiert worden."
Allerdings! - möchte man ausrufen, als Spontanreaktion darauf, wie recht Dr. Walter H. ausgerechnet mit dem hat, was er so vehement verneint. Und in der Tat - in diesem Leserbrief ist alles beieinander, was gesammelt wurde, um die These von der deutschen Kollektivunschuld unter Hitler zu begründen, ein Kahlschlag totaler Exkulpierung, der allen Absolution erteilt - dem Staat, den Beamten und Soldaten, dem ganzen Volk, eine kollektive Ent-Schuldung, so daß man sich unwillkürlich fragt, wer eigentlich die ungeheuren Verbrechen, die "leider" feststehen, begangen hat. Daß der Staat unter dem Hakenkreuz selbst die Quelle der politischen Kriminalität war, kommt dem eingefleischten Untertan aus Worms nicht in den Sinn. Staatsverbrechen und Verwaltungsmassenmord sind ihm, trotz mehr als vierzig Jahren absoluter Informationsfreiheit, ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb also die typische Begrenzung der NS-Kriminalität auf den Vernichtungsapparat und seine Praktiken, die Entkriminalisierung der halben NS-Epoche. Wie zu erwarten bei dieser Gesinnung, erfolgt selbstverständlich die Nivellierung Hitlerdeutschlands mit der übrigen Geschichte, entsprechend dem Gleichmachermotto "Überall ist Adolf Hitler!". Und schließlich kommt, abermals, die sattsam bekannte Wendung zum Vorschein, daß Aburteilungen von NS-Tätern nicht ihrer Untaten, sondern ihrer Niederlage wegen erfolgt seien.
Die Ausführlichkeit, mit der dieser kennzeichnende Leserbrief hier behandelt wird, rechtfertigt sich aus seinem exemplarischen Charakter - so haben wahrscheinlich die meisten Deutschen nach 1945 gedacht, und viele, wenngleich vielleicht nicht mehr ganz so viele wie einst, denken heute noch genauso. Nur natürlich, daß für diesen Pfarrer im Ruhestand der 8. Mai kein Grund zu Feier und Freude ist, obwohl er die Voraussetzung für die zweite deutsche Demokratie war, der Dr. Walter H. die Freiheit verdankt, seine anhumane und antidemokratische Welt- und Geschichtssicht im Ton unerträglicher nationaler Selbstbeweinung zu publizieren. Sorgsam konservierte Bewußtlosigkeit gegenüber den Geschehnissen vor dem 8. Mai 1945, Blindheit gegenüber den Zusammenhängen von Ursache und Wirkungen, Vertauschung der Rolle von Opfer und Tätern - das unfreiwillige Eingeständnis eines totalen ethischen Bankrotts. Was hat dieser Mann im Laufe seines Lebens an den Generationen der Söhne, Töchter und Enkel gesündigt? Der Verlust der humanen Orientierung ist nicht mehr meßbar und vollständig unregenerierbar. Eine demoskopische Umfrage jedoch würde erweisen, daß Pfarrer Dr. Walter H., der in Worms seine Ruhestand genießt, auf eine hohe zeitgenössische Zustimmung zählen kann.
Wie nahezu alles, was sich gegen die Kollektivschuldthese erklärt hat auch die These von der deutschen Kollektivunschuld unter Hitler kollektiven Charakter.
Quelle:
"Die zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein"
(C) Knaur - Sachbuch 3943
ISBN 3-426-03943-5
Vollständige Taschenbuchausgabe April 1990
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.,
München
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Rasch und Röhring Verlag, Hamburg
Copyright (C) 1987 by Rasch und Röhring Verlag, Hamburg
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