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"Männer im Rauch"
Phänomenologie eines männlichen Sommerrituals
von Jörg Sobiella
Stammhirn l: Feuer
Das Tier im Menschen ist unser Stammhirn. Dort werden die uralten Triebe losgetreten: Beutemachen, Fortpflanzen und Grillen.
Ungefähr ein paar Millionen Jahre wird es zurückliegen, dass ein Affe, ein männliches Tier, zum ersten Mal ein Stück Fleisch über einem Feuer in der ostafrikanischen Savanne schwenkte. Ein großer Augenblick in der Odyssee der Mensch- und Mannwerdung, nicht weil das angekohlte und verräucherte Stück irgendwie besser schmeckte, sondern weil derjenige, der es über dem Feuer kreisen ließ, eine der wichtigsten Selbstbestimmungen gefunden hatte - für sich und alle folgenden Generationen: der Mann als der große B(e)rater. Seit diesem Ereignis vor schätzungsweise einhunderttausend oder zweihunderttausend Generationen ist das Hantieren mit rohem Fleisch über offenen Flammen in der tiefsten Windung des männlichen Gehirns fest verschraubt, gleich neben dem Jagen nach Tieren und Frauen.
Jedes Jahr bei Ankunft der ersten Zugvögel stürzt sich der stammhirngesteuerte Mann mit der Lust panischen Beginnens an seinen Grill. Ein halbes Jahr hat er diesem Frühlingstag entgegen gefiebert in der Winterwohnhöhle, die dem Manne eine Wohnhölle ist dank der periodischen Säuberungsinvasionen seiner Frau. Männer lieben ihre Frauen (auf ihre Art), sie lieben sie aber nicht als Staubsaugeramazonen und - abscheulicher noch - als Vestalinnen mit Kittelschürze, als Unterdrückerin ihres Lieblingsspielzeugs, des Feuers, das die Frauen unter ihren blankgewienerten Ceran-Kochfeldern von Schott und Genossen wie einen Dschinn gefangenhalten oder im sensorgesteuerten Umluftofen als kuchenbräunenden Scirocco kläglich verwehen lassen ...
Was sind diese entkörperlichten, virtuellen Flammenherde gegen ein Sturmfeuerzeug in männlicher Hand!
Stammhirn II: Fleisch
Seit der Verinnerlichung der Jagdinstinkte auf Wildbret und Weiber ruft das männliche Stammhirn seinen Besitzern zu: "O Lust der fleischlichen Berührung". Frauen gehen zum Fleischer einkaufen, Männer werden Fleischer. Männer greifen gern zum Lenkrad oder zum Akkuschrauber, ihre Hand umschmeichelt die Computermaus. Aber das alles ist nichts gegen den Griff ins Fleisch, vulgo: Grapschen. Die Geschichte der (Un)Sittenzähmung hat es dahingebracht, dass dergleichen heute nicht nur verpönt, sondern auch strafbar ist. Aber was soll Mann machen, wenn seine Stammhirnsstimme in dem Maße lauter röhrt wie knapper werdende Textilen, die griffige Schönheit des andersgeschlechtlichen Schinkens enthüllen. Er flieht in den Rauchkegel seines Grills. Er kühlt seine Glut mit Holzkohlenglut. Er knetet und rollt die weißlichen, weichen, widerstandslosen Wurstschläuche, dieses Sinnbild friedlichen, begehrlosen, schlaffen Fleischseins, bevor er sie auf dem Rost zur prallen, rehbraun leuchtenden Bratwurst erigieren lässt. Er fischt aus der Bierlake ein rohes Brätel hervor, tätschelt es behutsam. In seiner Phantasie wächst sich das Stück zu einer streichelzarten, vollendeten Hinterhüfte aus. Erst dann legt er das Brätel mit einem Seufzer der Entsagung auf das Gitter, wo es sich dampfend dem Mürbewerden hingibt.
Wortkunde
Grill, der; -s, -s <über engl. grill aus
gleichbed. fr. gril (neben grille), zu
altfr. graille, greille, dies aus dem lat.
craticulum "Flechtwerk, kleiner
Rost">: Bratrost.
Grillen, die; Plural für Heuschrecken.
Grillen; grillieren <über engl. to grill
auch gleichbed. fr. giller>: auf dem Grill braten.
Visionen
Grilltuning: tiefer gelegte Grills der Hightech Extraklasse mit Keramikspoilern, die sich bei 200 Grad Celsius automatisch ausfahren. Rallyereifen und Aluminiumfelgen an den Standbeinen und mit integriertem High-end-Subwoofersystem mit SC-Technologie für kontrollierte, kraftvolle Bässe.
Autowaschstraßen kombiniert mit Grillwaschstraßen, für die Männer ein Weg, um ihren zwei besten Freunden etwas Gutes zu tun, dem Auto und dem Grill. Wer seinen Grill nicht pflegt, sollte seine rußverschmierten Brätel alleine essen müssen. Stichwort: PAK, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, die beim Verglimmen der Holzkohle freigesetzt werden. PAK's stehen unter dem Verdacht, Krebs zu erregen. Nur ein sauberer Grill ist ein gesundheitsschonender Grill!
Metaphysik
Die Geburt letzter Fragen im Dunstkreis des Rostbratfeuers. Wo kauft man die wohlschmeckendsten Würste? Wie lange müssen die Brätel eingelegt sein? Mit welchem Bier? Oder bloß Wasser, Salz und Zwiebeln?
Womit beträufelt man die Glut: Wasser oder Bier? bloß Wasser, Salz und Zwiebeln? Wie verhindert man wirksam das Platzen der Würste?
Warum platzen sie überhaupt?
Der Mann am Grill ist ein Philosoph am Grill. Hat er die Holzkohle angeblasen, ruft er: "Der Rost brennt schon!"
Gelegentlich liest man diese Worte auch an den Femverkehrsstraßen, dort wo die Bratwürste die Aborigines sind - in Thüringen. "Der Rost brennt." Was will uns der Existenzialist am Grill mit dieser bestürzenden Aussage mitteilen?
Ein brennender Rost, ein Zeichen wie der flammende Dornbusch? Nie ist der Mann am Grill alleine. Andere Männer sinnieren mit ihm, die Würste beobachtend, ob "die jetzt so weit sind" oder ob "sie noch ein bißchen müssen".
Eine Gesellschaft von Peripatetikern, die in den Redepausen dem Zischen des Fetts und dem Knacken in der Glut lauschen, hin und wieder an ihrer Bierflasche nuckelnd. Ihr feuerfixierter Blick gleicht dem der Frauen, wenn sie in den Kinderwagen einer jungen Mutter schauen.
Es ist ein welterfahrener Blick.
Der Grill - eine Metapher für das Leben vor und nach dem Tode. Wir schmoren alle über derselben glosenden Kohle. Wir sind alle bloß kleine Würstchen.
Männern, die sich um einen Grill versammeln, kann das Leben nichts mehr vorgaukeln, sie wissen, dass auch ein Rost brennen kann.
Hollywood oder: Porträt des Grillmannes als Held.
Irgendwann ist auch das letzte Stück Holzkohle zu Asche zerfallen. Die beizenden Rauchschwaden lichten sich, und heraus tritt der Held, der einen Abend lang den Würsten und Bräteln das Lied vom Tod spielte. Man klopft ihm auf die Schulter, dass er so wacker ausgehalten hat, lobt in höchsten Tönen seine Bratkünste.
Ein Clint Eastwood des Grills. Für diesen Augenblick des Glücks lohnt es sich, ein Mann zu sein, die Jeans holzkohlegeschwärzt, das T-Shirt (mit dem Aufdruck "Bier formte diesen schönen Körper") vom Abwischen der fettigen Hände verschmiert, die zerzausten Haare von Flugasche ergraut, Gesicht und Arme noch gerötet von der Wärmestrahlung.
"Ich reite in eine Stadt ein und der Rest findet sich"
(0-Ton Eastwood über seine Filme).
Das gilt auch für den lonely hero am Grill. Man kann dieses Gefühl auch mit den Worten von Bernhard Lindemann beschreiben.
Sieger des diesjährigen Schnellgrill-Wettkampfes der Kleingarten-Anlage "Silbertanne" in Schnepfenthal- Rödichen, Kreis Gotha:
"Uns geht es nicht ums Essen, uns geht's ums Grillen".
Rentner Bernhard Lindemann röstete auf seinem Standardrost von 50 mal 40 cm in einer Stunde 26 leckere Brätel und 53 knackige Bratwürste.
Stammhirn III: Geruch
Sah man je Frauen am Grill? Ihr genetisches Programm vermeidet diese Ortswahl in der Nähe. Frauen riechen besser, aktiv und passiv.
Der Mann ist von Natur aus mit einem starken Eigengeruch (Iltis) und deshalb mit einer unsensiblen Nase gesegnet. Er kann stundenlang im Rauch stehen, er riecht nichts, am wenigsten sich.
Irgendwann hat er sich in eine fröhliche vulkanische Geruchsprobe verwandelt: Rauch, Asche- und Bratendünste entströmen seinen Poren. Aus seinem Rachen schlägt die Lohe vergorenen Bieres. Man empfiehlt ihm nach der Schicht am Grill, sich duschen zu gehen.
"Danke, geht schon," wird der Brater sagen,
"das bißchen Qualm hat mir nichts ausgemacht."
Quelle:
"TRIANGEL"
Das Radio zum Lesen
JOURNAL
Lebensart
mdr-figaro
Das Kultur-Radio
Juli 2004
9. Jahrgang
Jahrespreis 18.40 €
ISSN 1432-9476
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