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"Die weiße Rose"


B.Traven
Nachwort


Weiße Rosen in Dresden...

Im Jahre 1930 veröffentlichte Kurt Tucholsky in der "Weltbühne" einen begeisterten Aufsatz über einen Schriftsteller, von dem bereits sieben Bücher erschienen waren - jedoch praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit in der gewerkschaftlich geleiteten Büchergilde Gutenberg. Ein freundlicher Leser hatte ihm ein "merkwürdiges Buch" geschickt: B.Travens "Weiße Rose".
Tucholsky las die Geschichte von Mr. Collins und der Rosa Bianca, und er las das "ganze Werk dieses seltenen Mannes". Nach der Lektüre dieser sieben Bücher kam er zu der lapidaren Feststellung: "B.Traven ist ein episches Talent größten Ausmaßes." Tucholsky spricht von der "fast unglaublichen Fülle und Dichtigkeit des Witzes, des Humors, den literarischen Kunststückchen, den mühelosen epischen Handgriffen", und er nennt Travens Bücher "von einem Proletarier für Proletarier geschrieben ... Arbeiterkunst, Kunst, weil sie gewachsen ist und destilliert durch die Persönlichkeit eines großen Erzählers."
Dieser hohen Wertung liegen die folgenden, fast alle in Mexiko spielenden Bücher zugrunde: "Das Totenschiff" (1926), "Die Baumwollpflücker" (1926), "Der Schatz der Sierra Madre" (1927), "Der Busch" (1928, erweitert 1950)" "Land des Frühlings" (1928), "Die Brücke im Dschungel" (1929) und schließlich als letztes "Die weiße Rose" (1929). Das Hauptwerk B. Travens, die 1930 bis 1939 entstandene sechsbändige Mahagoni-Serie, hat Tucholsky für seine Einschätzung noch nicht heranziehen können. In diesem Zyklus erzählt Traven in losen Episoden, aber doch in einer fortlaufenden Handlung die Schicksale einer Gruppe von Indios bis zur mexikanischen Revolution, die 1910 ausbrach. Er schildert in eindringlichen Bildern, wie es zu dieser revolutionären Erhebung kam, kommen mußte und was sie für die mexikanischen Bauern und die mexikanischen Proletarier, die zu 95 Prozent Indios sind, bedeutete. In der "Weißen Rose" spielt die Revolution ebenfalls eine entscheidende Rolle. Das Werk schließt zeitlich an den Mahagoni Zyklus an; es spielt noch während der Revolution, deren bewaffnete Phase etwa bis 1917, bis zur Verabschiedung der Verfassung, andauerte.

Die Wurzeln dieser Ereignisse lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Nach dem Scheitern des französischen Versuchs, Mexiko den "Kaiser" Maximilian aufzudrängen (1861-1867), und nach dem Tode seines Überwinders Benito Juarez war es zu erbitterten Machtkämpfen gekommen, aus denen schließlich der General Porfirio Diaz als Sieger hervorging. Seit 1877 regierte dieser Mann mit einer kurzen Unterbrechung (1880 bis 1884) als absoluter Diktator, bis ihn die bürgerlichdemokratische Revolution endlich stürzte. Diaz betrieb eine für Mexiko unheilvolle Politik, indem er die reichen Bodenschätze des Landes ausländischen, vor allem USA- Konzernen auslieferte, Plantagen, Eisenbahn- und Erdölkonzessionen an sie verschacherte. Der Porfirismus führte zu einem Massenelend der indianischen Bauern, das Land wurde praktisch eine Halbkolonie der USA.
Bei Ausbruch der Revolution im Jahre 1910 besaßen bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 15 Millionen 834 Großgrundbesitzer 85 Prozent des Bodens, während die Masse der Indios als feudalabhängige Peones auf den Fincas arbeiten mußte. Nur 3,4 Prozent der Bauern bewirtschafteten eigenes Land. Kein Wunder also, daß sich die soziale Revolution auf eine starke Bauern- und Partisanenbewegung stützen konnte.
Die antifeudale und antiimperialistische Revolution in Mexiko hatte für den gesamten Kontinent eine gewaltige Bedeutung. An ihr waren unterschiedliche gesellschaftliche Schichten mit ebenso unterschiedlichen Zielen beteiligt. Das eigentliche Revolutionsheer bestand aus den für "Tierra y Libertad" (Land und Freiheit) kämpfenden Bauern. Ihre Anführer stammten in der Regel aus der relativ kleinen mexikanischen Bourgeoisie, die gegen das halbfeudale Latifundiensystem auftrat, weil sie freie Arbeitskräfte und einen kaufkräftigen Binnenmarkt für ihre Produkte brauchte. Das gemeinsame, einigende Ziel war die Schaffung einer eigenständigen nationalbürgerlichen Ordnung von konstitutionell-demokratischer Struktur. Ihr Hauptvertreter war Venustiano Carranza, der, gestützt auf die revolutionären Bauernarmeen, im Frühjahr 1913 den von den USA geförderten Huerta-Putsch niederschlagen konnte. Nachdem auch die Partisanenarmee des Anarchisten Pancho Villa 1915 besiegt worden war, konnte 1917 eine neue Verfassung für das Land verabschiedet werden. Das revolutionäre Kleinbürgertum erzwang dabei eine radikale Fassung der Artikel über die Volksbildung, das nationale Besitzrecht an den Bodenschätzen und die sozialen Rechte der Werktätigen.

Unter der Präsidentschaft Alvaro Obregons (1920-1924) entwickelte sich die nationale Bourgeoisie, ohne vorerst die Unterstützung der Volksmassen zu verlieren. Obregon operierte mit einem kleinbürgerlichen Sozialismusbegriff und formulierte zum Beispiel: "Der Sozialismus richtet sein Hauptaugenmerk darauf, dem Volk die Hand zu reichen, um nach einem großen Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit zu suchen und eine gerechte Verteilung der Güter herauszufinden, mit denen die Natur die Menschheit beschenkt." Obregons Nachfolger Plutarcho Elias Calles (1924-1928) setzte den Aufbau eines nationalen Kapitalismus fort. Zugleich verdoppelte er noch den Umfang der Landverteilung an indianische Bauern, unterstützte die Bauernorganisationen, gewährte auch den Arbeitern mehr Rechte und höhere Löhne. Ein Gewerkschaftsführer wurde zum Minister ernannt, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion wurden aufgenommen und sogar sogenannte Arbeiter-Attaches in die diplomatischen Vertretungen delegiert. Alle diese Faktoren beeindruckten den aus Europa eine völlig andere Politik gewohnten Schriftsteller B. Traven und beeinflußten sein Mexiko-Bild. Es ist bekannt, dass Traven, der seit 1924 in Mexiko lebte und später die Staatsbürgerschaft des Landes erwarb, sich weitgehend mit dieser Politik identifizierte und daß er sich selbst als mexikanischen Schriftsteller betrachtete. In seinem Interview mit Luis Suarez von 1966 bestätigte er ausdrücklich, daß er im Leben und in seinen Büchern immer den mexikanischen Standpunkt eingenommen habe. "Das ist einer der Gründe, warum einige meiner Bücher in den Vereinigten Staaten nicht veröffentlicht worden sind." Ausdrücklich verweist er in diesem Zusammenhang auf "Die weiße Rose".

Nach seinem ersten Roman, dem 1924 in englischer Sprache geschriebenen "Totenschiff", der nach Aussage des Autors wegen seiner scharfen antikapitalistischen Haltung von mehreren namhaften Verlagen in den USA abgelehnt wurde, hat sich Traven völlig der Mexiko- und Indio-Thematik zugewandt. Das schließt nicht aus, dass auch in diesen Büchern die USA und ihre Politik in Lateinamerika kritisch ins Bild kommen - etwa in "Die Brücke im Dschungel". Doch das Proletariat als leidende und kämpfende Klasse wird erst in der "Weißen Rose" wieder in das Zentrum gestellt. Traven knüpft hier ganz offensichtlich an sein "Totenschiff" an. Er versucht, Probleme des Hochkapitalismus in den USA zu gestalten und dessen Praktiken gegenüber einem in Travens Augen progressiven, weniger entwickelten Nachbarstaat. Dabei benutzt er den Einzelfall, wie schon in seinem ersten Roman, als Beispiel, zielt auf das Systemtypische an dieser Erscheinung. Mr. Collins und seine Manöver werden von Traven als ebenso repräsentativ empfunden wie das Schicksal des Seemanns Gerard Gale aus New Orleans im "Totenschiff". Wie diesem einige Parallelgestalten beigegeben sind, seine Erfahrungen mit den Konsulaten durch Wiederholungen erhärtet werden, so stehen auch neben Collins andere Kapitalisten, werden mehrere Börsenmanöver geschildert.
Diesen Mr. Chaney Collins, den Präsidenten der Condor-Oil-Company, faßt Traven als ein typisches Produkt des "american way of life" auf. Dabei gesteht er ihm zu, er habe Größe, sei in seinem Beruf ein Genie und als Mensch durchaus liebenswert. Tucholsky schrieb über ihn:

"Dieser Bursche wird gar nicht als grimmiger Blutsauger dargestellt; er ist wohl etwas gerissener als die anderen, etwas rücksichtsloser, etwas gemeiner und etwas schneller." Traven legt besonderen Wert auf die Feststellung, daß Collins nicht nur Nutznießer der Ausbeutergesellschaft, sondern auch ihr Produkt ist, daß er sich nicht selbst geschaffen hat. Sein Wille ist keineswegs frei: "Weil er immer nur verlieren kann, darum muß er gewinnen, ganz gleich, was es kostet, ganz gleich, wer und was darüber zugrunde geht." Es ist ein tief realistischer Zug, der die Aussage über die Person des Mr. Collins hinaus verallgemeinert, daß Traven ihn nicht als kapitalistischen Hyperschurken darstellt, sondern - ähnlich wie Brecht in "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" den Mauler - als Persönlichkeit nicht ohne Werte. Dadurch tritt die Anklage gegen das deformierende System noch deutlicher hervor. Nicht der einzelne Kapitalist soll gebrandmarkt werden, sondern der Kapitalismus als menschenfeindliche Gesellschaftsstruktur. Neu für Traven ist in diesem Buch nicht die proletarisch- antikapitalistische Haltung - sie zieht sich durch sein gesamtes Schaffen -, neu ist die umfassende und tiefgreifende Darstellung der kapitalistischen Geschäftspraktiken, wie sie am Werdegang von Collins und an seinen Unternehmungen schlüssig demonstriert werden, getragen von einer erstaunlichen Sachkenntnis. Für Tucholsky, der in seinem Traven-Aufsatz besonders auf die "Weiße Rose" eingeht, ist das Buch seit Frank Norris' "Octopus" ("Die goldene Fracht") von 1907 endlich "wieder einmal eines, das in der Schilderung der Geschäfte an Balzac heranreicht". Es steht für ihn turmhoch über den vergleichbaren Büchern von Upton Sinclair und Ilja Ehrenburg. "So soll man den Kapitalismus bekämpfen. Es stimmt alles. So sind Geschäfte... und so soll man sie anprangern." Auch in der antifaschistischen Emigrationszeitschrift "Das Wort" (Moskau) wird 1936 die "wildsachliche Betrachtungsweise" und 1937 die "innere Geschlossenheit" der "in ihrer bissigen Betrachtungsform hervorragenden .Weißen Rose'" gerühmt.

Man ist heute versucht anzunehmen, daß Travens mitreißende Schilderung des großen Kohlencoups, der als Collins Gesellenstück bezeichnet wird, auf der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise fußt. Doch der "schwarze Freitag", der Tag des New-Yorker Börsenkrachs, der die vierjährige Krise auslöste, war der 29. Oktober 1929- und "Die weiße Rose" ist bereits 1929 erschienen. Noch am 4. Dezember 1928 schrieb der abtretende US-Präsident Coolidge in seiner Abschiedsbotschaft an den Kongreß: "Das Land kann mit Befriedigung auf die Gegenwart und mit Optimismus in die Zukunft blicken." Der Direktor eines der großen Stahltrusts erklärte zur gleichen Zeit, in den Staaten sei "das Fundament für eine solche Blüte gelegt, die alles, was wir bisher gesehen haben, in den Schatten stellt", und auch der Direktor von General Motors sah keinen Grund, "weshalb wir kein weiteres Anwachsen der Prosperität mehr haben sollten". Die ersten Anzeichen der bevorstehenden Krise Mitte des Jahres 1929 wollte niemand wahrhaben; bis zu ihrem Ausbruch herrschte in Finanz- und Börsenkreisen ungebrochener Optimismus. Travens Modell können also - neben dem großen Streik im Kohlenbergbau im April 1927 - nur die vorangehenden kleineren Krisen gewesen sein, bei denen es im Höchstfall zu einem Produktionsausfall von 10-15 Prozent gekommen war - gegenüber 50, teilweise sogar 66 Prozent in der Weltwirtschaftskrise. Die im Buch geschilderte Krise dürfte in der Größenordnung etwa dazwischen liegen. Den Zeitgenossen muß sie wahrhaft als Menetekel erschienen sein.

Das Bild der amerikanischen Gesellschaftsordnung, das uns in der "Weißen Rose" präsentiert wird, läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Die USA sind für Traven das Dorado des Kapitals, in dem die ausgebeuteten Arbeitermassen unterdrückt und manipuliert werden. Diese Erkennntis hat der Schriftsteller auch publizistisch ausgesprochen. Im Januar 1930 veröffentlichte er in der Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg den Artikel "Amerika, das gelobte Land der Freiheit". Hier schildert er die Schwierigkeiten, die der isländische Schriftsteller Halldor K. Laxness, der spätere Nobelpreisträger, wegen einer Bemerkung zum Fall Sacco und Vanzetti hatte, und vergleicht die USA mit dem faschistischen Italien. "Der Unterschied zwischen den Freiheiten, die Mussolini gestattet, und den Freiheiten, die die amerikanische Regierung gnädigst erlaubt, ist nicht so groß. Man sieht überhaupt keinen Unterschied, höchstens daß Mussolini offen erklärt: ,Die Freiheit bin ich', während Amerika erklärt: ,Wir sind die Nation mit der sprichwörtlichen Freiheit.'" Bei seiner Amerika-Kritik zieht Traven alle Register seiner Kunst, geht stets über die jeweiligen Einzelfälle hinaus. Das Vorgehen von Collins gegenüber der Rosa Bianca wird erklärt durch sein Vorgehen beim großen Kohlencoup und dieses wiederum durch den Fall des Bauarbeiterstreiks. Auf der anderen Seite wird es in Parallele gesetzt zur imperialistischen Haltung der USA gegen Mexiko und zum Huerta-Putsch. Die Korruption in den Vereinigten Staaten wird in Wirtschaft, Presse und Regierung nachgewiesen, und zwar mit Namen und Hausnummer. Traven spricht von Mr. Sinclair, dem mächtigsten Ölmagnaten der USA, dem es gelungen sei, die militärische Bereitschaft der Nation zu kaufen und in Öl und Dollars umzuwandeln, und seinen Spießgesellen auf Präsidentensesseln und im Kabinett: Warren Harding, Präsident von 1921 bis 1923, und Calvin Coolidge, Präsident von 1923 bis 1928. Er vergißt nicht zu erwähnen, daß die Rechtsgelehrten im amerikanischen Gesetzbuch für derlei Delikte keinen Paragraphen finden können.

Auch die amerikanischen Gewerkschaften werden sehr kritisch gesehen. Das ist besonders überraschend, weil Traven sonst für syndikalistische Ideen anfällig ist. In diesem Buch schildert er nicht nur korrupte Gewerkschaftsfunktionäre, bei denen man zum Beispiel einen Streik "kaufen" kann, er zeigt auch, daß selbst subjektiv ehrliche, aufopferungsvolle Gewerkschaftsarbeit durch die großen Monopole ausgenutzt wird. Seine These lautet: Arbeiter streiken selten, wenn es für sie günstig ist, sondern meist, wenn es dem Kapitalismus günstig ist.
"Nicht aus Dummheit, sondern ehernen Gesetzen folgend. Was immer auch Arbeiter tun mögen, innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems werden sie das tun, was dem Kapitalismus dienlich ist." Das klingt nun wahrlich nicht nach Syndikalismus, nicht danach, alles Heil von den Gewerkschaften (Syndikaten) und vom ökonomischen Kampf - Boykott, Streik - zu erwarten. Ob und wieviel der Arbeiter verdient - das weiß auch Traven bestimmen eben nicht die Gewerkschaften, sondern das bestimmt, "der nicht predigt, sondern handelt und keine Sentimentalität kennt": der kapitalistische Unternehmer. "Prolet, du hast treffliche Lehrmeister", kommentiert Traven. Er hat hier offenbar eine neue Erkenntnisstufe erreicht. Frühere Bücher, zum Beispiel "Die Baumwollpflücker", verrieten in dieser Frage noch Illusionen - allerdings unter den für Traven progressiven mexikanischen Verhältnissen. Sein Zorn über die Ausbeutung des Proletariats in den USA ist ebenso grenzenlos wie seine Bewunderung für und sein Ärger über die Arbeiter. "Magnaten machen einen großen Fischzug, und das Proletariat opfert seinen letzten Cent und verhungert. Immer das Proletariat. Und immer und nochmals das Proletariat. Verflucht noch mal, Prolet, was bist du doch für ein Esel!"

Deshalb hält Traven dieses System für festgefügt und schwerlich zu stürzen. Jedenfalls nicht mit den von den Sozialisten und Kommunisten empfohlenen Mitteln. "In den Staaten einmal sicher nicht. Noch nicht." B. Traven vertritt auch in diesem Buch keinen marxistischen Standpunkt, er bleibt ein subjektiv ehrlicher anarchistischer Revolutionär. Er ist unbedingt für den Sturz des Kapitalismus, für die Revolution der unterdrückten Klassen. Und er bedauert ehrlich, daß nach seiner kühlen Analyse die USA, Hochburg des Imperialismus, dafür noch nicht reif sind. Noch nicht - schreibt er trotzig-optimistisch.
Das Mexiko-Bild des Romans bildet entsprechend der dualistischen Konzeption einen positiven Kontrast zu den USA. Hier ist Traven nicht frei von Wunschdenken, von leicht sentimentaler Verklärung. Dazu gehört weniger die Gestalt des Hacinto, dessen Haltung - "Land ist ewig. Geld ist nicht ewig. Darum kann man Land nicht gegen Geld vertauschen." - begreiflich und nachvollziehbar ist.
Eher wirkt die idyllische Beschreibung der Hazienda und des Farmlebens bei aller unbestreitbaren Faktentreue doch etwas romantisiert. Der indianische Hazienda-Besitzer als "Gevatter" und Erster unter Gleichen - das muß schon deshalb als Einzelfall bezeichnet werden, weil bei Beginn der Revolution nur noch 15 Prozent des Bodens nicht in den Händen von Großgrundbesitzern waren, die ja keineswegs derart patriarchalisch wirtschafteten. Travens Idealisierung dieser Verhältnisse geht auf seinen tief eingewurzelten Anarchismus zurück. Er wird nicht zuletzt in einigen Kommentaren über die Heimat als Lebensbasis deutlich, über die Städter, die die Bauern zu Heloten machen. Auch in seinen Ausfallen gegen die Errungenschaften der Technik, die dem Menschen zwar Nutzen bringen, ihn "in seiner Seele aber ärmer machen", verrät sich eine Überbetonung des Natürlichen, der Idylle.

Dieser proletarische Realist hatte eine tiefe Sehnsucht nach dem einfachen harmonischen Leben, wie er es unter mexikanischen Verhältnissen noch manchmal vorfand. Neben seiner klaren Gesellschaftsanalyse steht hartnäckig eine utopische Wunschvorstellung, die sich am deutlichsten am Schluß der Mahagoni-Serie ablesen läßt. Hier gründen die siegreichen Rebellen in dem vom Chaos der Revolution erschütterten Land eine Insel der Selbstverwaltung, eine Kolonie, die sie Solipaz (Sonne und Frieden) nennen und gegen jeden Eingriff von außen verteidigen wollen. Manche dieser Gedanken und Überlegungen sind freilich nicht direkter Autorentext, sondern werden von dem mexikanischen Gouverneur ausgesprochen, der sich auf der Rosa Bianca an seine indianische Verwurzelung erinnert fühlt. Dieser Mann, ein volksverbundener, gerechter, der Revolution ergebener Politiker, ist das eigentliche Gegenbild zu Collins. Er erscheint als eine durchaus reale und glaubhafte Gestalt, die freilich etwas vorbildhaft-positiv wirkt. Hier ist es besonders wichtig, den Zeitraum der Handlung hervorzuheben. Travens Buch spielt ja keineswegs in den zwanziger Jahren. Es ist durch den Schluß, den Huerta-Putsch, eindeutig in den Anfangs Jahren der Revolution angesiedelt, da der revolutionäre Schwung und die Volksverbundenheit der Regierung noch historisch berechtigt sind. Betont werden muß vor allem, dass Traven nicht zugunsten der patriarchalischen Naturalwirtschaft gegen die technische Entwicklung auftritt. Er ist nicht gegen Erdölförderung an sich. Den Gouverneur läßt er sagen: "Es kann der Tag kommen, daß wir, die Mexikaner, Öl brauchen. Dann mag die Weiße Rose geopfert werden, dann mag eine kleine Heimat geopfert werden, um eine größere Heimat, die Republik, die Heimat des mexikanischen Volkes zu erhalten." Aber nicht durch Betrug und Mord, nicht zu Lasten der Menschen, die dort leben, nicht für den Profit der USA-Monopole.

In dieser Frage ergreift Traven selbst das Wort: "Der Erzähler dieser Geschichte hat nicht die Absicht, falsche Sentimentalitäten zu erzeugen und stimmungsvolle Wirkungen zu erzielen, damit der Zuhörer von einer schönen und rührenden Geschichte sprechen kann, die von dem Knicken eines zarten Rösleins handelt." Er berichtet, dass es den Bewohnern der Hazienda später zumeist besser ging, daß sich ihr Horizont erweiterte, daß sie in einer größeren Welt heranwuchsen und sich darin wichtig fühlten und notwendig. Zusammenfassend urteilt er: "Die Menschen hatten viel verloren und bei dem Verlust viel gewonnen." Daß Traven ihre Entwicklung zu "bewußten Bürgern der Erde" hervorhebt, zeigt seinen proletarischen Internationalismus, auch wenn er als höchsten Gewinn - reichlich abstrakt - das Großwerden der Liebe bezeichnet.
Unsere Ausgabe des Romans "Die weiße Rose" bringt, wie alle Bände der "Ausgewählten Werke in Einzelausgaben", den Text der in der Büchergilde Gutenberg Berlin erschienenen Erstausgabe. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert, eine fehlende Zeile nach späteren Auflagen ergänzt. In der 1951 im Wolfgang Krüger Verlag Hamburg erschienenen Ausgabe des Werkes ist erstmals ein zusätzliches Kapitel von fünfzehn Druckseiten enthalten (2,5), in dessen Mittelpunkt Mr. Collins steht. Anscheinend ist der Autor doch von Bedenken befallen worden, ob er diese Gestalt nicht zu vital und "unaufhaltsam" angelegt und nur in seinen privaten Abhängigkeiten gezeigt hat. Das neue Kapitel Konfrontiert den Condor-Chef mit einem ihm überlegenen Mann, einem der mächtigsten und reichsten Wirtschaftskönige der USA.

Collins muß sich sagen lassen, daß sein Kohlenmanöver "smart" war: "Smart, yes, that's the word, smart." Der König habe einige Mühe gehabt, den Urheber der Transaktion ausfindig zu machen. Leicht hätte man ihn in den Ascheneimer stecken können, aber schließlich seien dadurch einige hundert Amateurspekulanten aus dem Geschäft gedrängt worden - ein großer Gewinn für die Industrie. Collins wird streng ermahnt, dergleichen nicht ein zweites Mal zu versuchen, sich an die Gesetze der Zeit zu halten, um nicht als Verbrecher angesehen zu werden, und muß einen Scheck über die Kosten unterschreiben, die für seine Auffindung entstanden.
Das Kapitel schwächt unverkennbar Travens Kapitalismus-Kritik ab. Der legendäre, uralte Wirtschaftskönig degradiert zwar Collins zur Drittrangigkeit, zugleich aber wird durch ihn eine regulierende, relativ weise und gerechte Instanz eingeführt. Hier kommt jene späte Entwicklung Travens zum Ausdruck, die sich auch in den "Mexikanischen Geschichten" aus den fünfziger Jahren (siehe "Erzählungen", Band 2), in der Fortführung der Novelle "Nachtbesuch im Busch" (1958) und dem umstrittenen Roman "Asian Norval" von 1960 niederschlug. Sie sind zweifellos ein Reflex auf die spätere Entwicklung Mexikos, die zunehmende Distanz von den revolutionären Idealen. Für diese und andere Schwächen seiner Bücher mag Ludwig Renns Einschätzung gelten:
"Man hat Traven vorgeworfen, daß er zum Anarchismus neige und gelegentlich unangebrachte Angriffe gegen seine natürlichen Freunde geführt hätte. Wenn man diese Dinge aber genauer betrachtet, so findet man, daß sie nur am Rande mitschwimmen, aber die Wirkung seiner Bücher kaum beeinträchtigen... Wenn wir diesen großen Schriftsteller nach seinen Ansichten fragen könnten,
so würde er wohl antworten: Ich bin mit ganzem Herzen auf der Seite des Friedenslagers. Ich hasse den Faschismus in allen seinen Formen. Mein Hauptkampf aber gilt der sozialen Gerechtigkeit."

Als ungewöhnlich und reizvoll empfand schon Tucholsky die Struktur des Buches, das Nebeneinanderherlaufen der beiden Handlungsstränge, die immer wieder unterbrochen und nach Weiterführung der anderen Ebene bzw. nach rückblickenden Einschüben oder kommentierenden Passagen wieder aufgenommen werden. Diese Technik, die er nur hier fand, nannte Tucholsky "Schwebetechnik". Traven probierte damit eine Form aus, die er dann in den Mahagoni-Romanen zum Strukturprinzip erhob, mit der die Bewältigung des großen Stoffes erst möglich wurde. Zweifellos ist sie in der "Weißen Rose" schon voll ausgebildet, schafft jenen "bunten Teppich ihres Schicksals", von dem Tucholsky spricht, an dem alle Gestalten mitwirken, der sich zu einem einheitlichen Handlungsgeflecht zusammenschließt, und den er "eine meisterhaft durchgeführte Sache" nennt. Travens Sprache ist auch in der "Weißen Rose" direkt, kräftig und dynamisch, nicht ohne poetische Schönheit, wozu besonders die unverbrauchten Bilder und Vergleiche gehören. Sie wirkt knapp und einfach, aber bildhaft und farbig. Roheiten oder Derbheiten, die aus der Handlung erwachsen und reale Spiegelung der Verhältnisse sind, werden durch eine gewisse Verfremdung im Ausdruck gemildert. Jedoch gibt es auch zarte und lyrische Stellen. Wenn Traven die negativen Erscheinungen der kapitalistischen Ordnung schildert, findet er sarkastische und satirische Töne.

Wie schon im "Totenschiff" ist die Ironie ein wichtiges Stilmittel. Durch das ironisch-naive Aufgreifen offizieller Urteile und Standpunkt wird ihr Zweckgehalt kommentarlos entlarvt. Werden kapitalistische Einschätzungen der proletarischen Thesen und Aktionen ironisch wiedergegeben, tritt der gleich Effekt auf. Traven bedient sich hier eines Kunstgriffes den beispielsweise Shakespeare im doppelbödigen Monolog des Antonius an der Leiche Cäsars vollendet anwandte. "Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann!" wird darin wiederholt behauptet. Wie ehrenwert ist der Kapitalismus, wie ehrenwert ist die Außenpolitik der USA? Diese Fragen haben für jede denkenden Leser heute unverminderte Aktualität. Für die Beziehungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten und auf die Außenpolitik der USA bezogen, ist der Roman "Die weiße Rose" noch immer von eminenter politischer Brisanz. Das beweist die Tatsache, daß seine Verfilmung durch Roberto Cabellon von 1963 (I) bis heute von der mexikanischen Regierung nicht zur öffentlichen Aufführung freigegeben wurde. Offenbar gilt hier noch immer, was der Gouverneur bei Hacintos Verschwinden erklärte: Mexiko darf den übermächtigen Nachbarn im Norden nicht reizen, ihm keinen Vorwand für Repressalien geben. "Die Beziehungen zwischen den beiden Mächten waren seit der Revolution gespannt genug, so daß es nur eines Funkens bedurfte, um das Feuer ausbrechen zu lassen." Am Ende des Romans bricht das Feuer aus, schlägt Huerta los". Das war einer der ersten Versuche, die Ergebnisse der gesellschaftlichen Umwälzung in Mexiko zu korrigieren. Er scheiterte schließlich. Doch zunächst kämpften Mexikaner gegen Mexikaner. "Sie glaubten große Patrioten zu sein..., und sie waren doch nur Sklaven fremder Kapitalisten."

Veracruz wurde besetzt, aber der Ölhafen Tampico blieb frei. "Denn hier wurde der Reichtum des Landes, um den der Bruderkrieg ging, das Öl, verladen. Dieser Hafen mußte offenbleiben, um zu zeigen, wo die Auftraggeber wohnten und wer sie waren." Travens Aussage ist auch hier eindeutig und gipfelt in den letzten Worten des Buches: "Was kümmert uns der Mensch? Wichtig ist das Öl." Man braucht nicht die Stichworte Kapitalinvestitionen und Vietnam Krieg zu bemühen: Dieses Buch ist heute noch wichtig und zeitgemäß.

H. D. Tschörtner (1972)


Quelle:

"Die weiße Rose"

B.Traven

Diese Ausgabe des Romans "Die weiße Rose" erscheint im Rahmen der Ausgewählten Werke Travens und gibt den Originaltext der Büchergilden-Veröffentlichung aus dem Jahre 1929 wieder
Mit einem Nachwort von H.D. Tschörtner
l. Auflage
Nachdruck verboten. Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1929 by R.E. Lujan and/or
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Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin
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Printed in the German Democratic Republic
Einbandentwurf: Werner Klemke
Gesamtherstellung:
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