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"Der Golem und der Maharal - Der weise Lehrer Rabbi Löw"


aus "Prag selbst entdecken"
von Jürgen Sorges


Der 1512 in Worms, nach anderen Quellen im polnischen Posen geborene Wunderrabbi Jehuda Liwa ben Bezalel, kurz Rabbi Löw, wurde beinahe 1oo Jahre alt, denn er starb am 22. August 1609 in Prag. Doch nicht das geradezu biblich anmutende Alter des Oberrabbiners der jüdischen Gemeinde Prags macht diesen Mann bis heute unvergeßlich, der in der damaligen Talmudschule JESCHIWA BETHAMIDRASCH lehrte. Heute steht an ihrer Stelle die Klausensynagoge. Rabbi Löw lehrte und versah die Sabbathfeier in der Altneusynagoge sicher zur Zufriedenheit aller. Aber es war und ist der ihm voraus- und nacheilende Ruf, Wunder, eben Unmögliches Wirklichkeit werden lassen zu können, der ihm bis heute seine Popularität verschafft.
Untrennbar ist sein Name mit jenem berühmten einäugigen Homunkulus, dem Golem, verbunden, den der Rabbi mit seinem Schwiegersohn und einem Lieblingsschüler in einer trüben Nacht des 20. März 1580 (das Jahr 5340 laut jüdischem Kalender) erschaffen haben soll. Der hebräische Namen GOLEM bedeutet nicht mehr als "ungeformte Materie", wohlwollend weitläufig interpretiert auch "Wesen ohne Seele und Geist".

Glaubt man den Legenden, die erst 1847, also über 250 Jahre nach der "Existenz" des Golems erstmals schriftlich fixiert auftauchten, so verhielten sich die Erschaffer des ersten lebenden Homunkulus nach einem geheimnisvollen, kabbalistisch wie astrologisch herleitbaren Ritual, um zum Erfolg der Lebenserweckung zu gelangen. Durch Beschwörung der vier Elemente Erde (Lehm),Feuer, Wasser und Luft (in dieser Reihenfolge) soll das Werk nach jemals siebenmaliger Umschreitung der Materie gegen den Uhrzeigersinn gelungen sein. Der Rabbi selbst soll dem glühenden, schon mal langsam durchfeuchtenden Dreiviertelwesen mit den rasch wachsenden Zehennägeln zur tiefsten Stunde der Nacht, um vier Uhr morgens, den Lebensodem eingehaucht haben, indem er dem kaum anderthalb Meter großen Klumpen (drei Ellen Höhe) den berühmten "Schem" mit der kabbalistischen Belebungsformel unter die Zunge legte.
Der Schöpfungsakt dieses menschlichen Gnoms, mithin eine Blasphemie christlich göttlicher Omnipotenz, soll dort vonstattten gegangen sein, wo der "Lebensweg" des Golem vermutlich auch endete, auf dem Dachboden der ALTNEUSYNAGOGE.
Josele, wie der Wunderrabbi seinen in Prag bald Furcht und Schrecken erregenden Diener fortan nannte, nun, Josele konnte beinahe alles, verstand alles und erledigte nahezu alle ihm aufgetragenen Arbeiten zu vollster Zufriedenheit, doch bleibt ein Manko: Niemand hat ihn je von Angesicht zu Angesicht gesehen. Für Löw-Fans bedeutet dies nun kein Wunder: Erstens soll Josele tagsüber dem Rabbi ausschließlich in seiner Privatgelehrtenstube zugewerkelt haben. Zweitens mußte dieser neugeschaffene gute Geist des rudolphinischen Ghettos nachts auf die Straße und unerkannt Spionage- wie Patrouillendienste verrichten.

Sinn und Zweck der Erschaffung des Golems war für den ebenso kabbalistisch orientierten wie pragmatisch um das Wohl seiner Gemeinde fürchtenden Rabbi Löw kein faustischer Pakt mit dem Teufel. Ihn bewegte etwas weitaus Profaneres, Praktisches: nichtjüdische Menschen waren davon abzuhalten, im Dunkel der Nacht heimlich und unbemerkt in das Ghetto einzudringen, um dort etwa die Juden kompromittierendes Material abzulegen oder gar Kleinkinder auszusetzen.
Hintergrund: Wie in allen anderen europäischen Großstädten war auch in Prag die Zahl der unehelich gezeugten Neugeborenen sehr hoch. Ausgesetzt wurden solche Babys, für manche "Bastarde", offensichtlich in allen Schichten der Gesellschaft und unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Prags Christen konnten im Ghetto ihre Babys elegant und einfach loswerden: Mauern schirmten den Bereich ab, die Gerichtsbarkeit aus den Rathäusern drang nur selten bis hierher vor. Wurde dennoch etwas von der Schandtat ruchbar, war die Tatschuld leicht den Juden in ihre Holzgaloschen zu schieben. Denn jene hatten permanent gegen die verleumderische Kirchenpropaganda des rituellen Kindesmordes anzukämpfen. Speziell um 1580, zur aufkommenden Blütezeit der Gegenreformation in Prag, die durch Zuzug und wachsenden Einfluß der Jesuiten aus Rom nach Prag (ab 1556) entstand, scheint das Problem prekäre Züge angenommen zu haben.
Ein im Ghetto von Christen aufgefundenes, womöglich nicht beschnittenes Kleinkind erforderte die allerhöchste Aufmerksamkeit der jüdischen Gemeinde. Allein die Anwesenheit des ausgesetzten Kindes im Ghetto konnte unverzüglich Progrome gegen die Judenstadt auslösen.

So verrichtete Josele denn im Auftrag seines Meisters, eines wie zahllose Schriften belegen, glänzenden Rhetorikers, den ihm aufgetragenen aufopferungsvollen Dienst an der Gemeinschaft. Er kontrollierte nächtens die Taschen von Passanten, schaute unter Mänteln und Umhängen nach und sorgte, so die Legende, für Ruhe und Frieden auf den Straßen. Schnell war der bedrohliche Spuk vorbei.
Nur einer, der wundersame Rabbi, wird sich zufrieden lächelnd in seinen Lehnstuhl gesetzt und seinen unendlich langen, Weisheit symbolisierenden, Rauschebart gestrichen haben. Denn der Golem hat vermutlich nur in der Phantasie des Rabbi Löw sowie anschließend als mediales Ereignis in den Köpfen der Prager existiert. Josele ist eine Phantasmagorie, ein bewußt inszeniertes Gespenst, daß zur Abschreckung möglicher Missetäter gedient hat.
Rabbi Löw muß, so er denn tatsächlich eine Zeit in Worms gelebt hat, mit der Sage vom Golem bestens vertraut gewesen sein. Denn die tauchte dort erstmals bereits im 13. Jh. auf. Generationen auf Generationen tradiert, gelangte sie schließlich auch in das Gedächtnis des klugen Rabbi. Dieser kramte sie, als die Zeichen der Zeit es erforderte, hervor, um seine Gemeinde vor Schaden zu bewahren...
Rabbi Löw war sicher kein Wundertäter und schon gar nicht ein früher Genforscher mit Dolly-Ambitionen, mit Sicherheit aber ein bedeutender Gelehrter und Philosoph. Manche Forscher bezeichnen ihn als neoplatonischen Denker, dessen Kenntnisse soweit reichten, daß er den Ehrentitel "Lehrer der Lehrer" eben MAHARAL (Abk. für: Morenu haw raw Löw; "Unser Lehrer, unser Herr") führen durfte. In Prag wirkte Rabbi Löw nicht nur als Seelsorger, sondern vor allem als geschickt taktierender Psychologe und Pädagoge, der sich um eine Verbesserung der Beziehungen der Juden untereinander wie auch zu den Nichtjuden bemühte. Das Multitalent soll Kaiser Rudolf II. in die Geheimnisse der Kabbala eingeweiht und mit Brahe und wohl auch Keppler über astronomische Probleme gefachsimpelt haben.

Manche Forscher legen noch heute ihre Hand dafür ins Feuer, daß der Rabbi in Begleitung von David Gans, seinem Schwiegersohn und Astronomen, tatsächlich am 23, Februar 1592 der Einladung Rudolfs II gefolgt sein soll. Dabei scheint es ihm gelungen zu sein, den mit saturnischer Melancholie geschlagenen Kaiser zu helfen. Löw soll sogar eine "Saaldecke" des Hradschiner Königspalastes, die sich wie in E.A. Poes Erzählung "Das Pendel" mehr und mehr auf das von Depressionen gedrückte Kaiserhaupt senkte, zum lebensrettenden Halt veranlaßt haben. Ein interessantes Detail - vor allem für Psychologen.
Rabbi Löw: ein weltgelehrter Menschenkenner, der weniger in den Reigen weltabgewandter Eigenbrötler und Mystiker gehört, als viel eher in eine Reihe mit großen Reformern wie dem Pädagogen Jan Amos Komensky. Letzterer ist in deutschen Landen besser unter dem Namen Comenius bekannt. Ihm gebührte zumindest ein Platz im Pädagogik - Museum des Wallenstein - Palais, denn wie Comenius propagierte Löw die Bildung als einzigste Möglichkeit zur Weltverbesserung und friedfertigerem Umgang der Menschen miteinander. Auch er forderte als einer der ersten die allgemeine Schulpflicht und steht somit in der Reihe derjenigen Sozialreformer, die frühzeitig die Veränderungen in der Welt der heraufziehenden Aufklärung erkannten.
Hinsichtlich des Golem - Problems paßt ins Bild, daß dieser Schrecken aller Straßenstrolche am Sabbat ruhte. Dann entfernte ihm der Rabbi den Schem, und der Lehmklotz sank hilflos in sich zusammen. Denn am Sabbat wird erstens nicht gearbeitet, zweitens aber ist er ein Tag des Friedens.

Niemand sollte durch die Anwesenheit des Schreckens beunruhigt werden. Nur einmal scheint der Golem den vorsorglichen Händen des Rabi entwischt zu sein, die Sache eskalierte. Denn, so geht die Sage, Josele kam am Sabbat wie die Furien über das Ghetto, vernichtete in seiner Raserei Hab und Gut und versetzte die Gemeindeschäfchen in Angst und Panik. So mußte denn der Golem bereits 1592 "sterben", kaum 12 Jahre alt. Das Prozedere fand erneut auf dem Dachboden der Altneusynagoge statt, wo der Körper des Golem angeblich auch begraben liegt.
Egon Erwin Kisch schaute unter den entsetzten Augen des Schames, des Synagogenpedells, Anfang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts höchstpersönlich nach. Aus dramaturgischen Gründen wählte der rasende Reporter natürlich die Nacht, um die Außenwände der Synagoge zu erklimmen. Was er vorfand, erschöpfte sich in Krümeln und Staub vergangener Jahrhunderte: Keine Spur von etwaigen Hominiden, keine Toten oder Untoten. Und auch sonst nichts sein Interesse Weckendes.
Kisch recherchierte noch weitere, bis in den Balkan führende Fährten, um den möglichen späteren Verbleib des Leichnams zu klären. Auch Gerüchte wonach weitere (mißlungene) Belebungsversuche andernorts stattgefunden hätten, erwiesen sich als nicht mal gut genug für eine Zeitungsente. Kisch gab auf und schloß das Thema "Golem" für sich mit folgendem Ergebnis: "Josele ist, so er denn je gelebt hat, mausetot."

Die geistige und politische Lehre des Wunderrabbis Löw lebt hingegen in seinen Büchern fort. Interessierte sollten zu den zwei von ihm verfaßten kabbalistischen Schriften greifen oder ihr Glück mit "Netiwot olam" ("Die Pfade der Welt"), "Gewurat ha - Schem" ("Die mächtigen Taten Gottes") oder "Gur Arje" ("Das Löwenjunge"; ein Thorakommentar) versuchen. Zudem sammelten viele Literaten die Legenden des Rabbi, um sie phantasievoll romanhaft auszubauen. Vielleicht sollte man mit Gustav Meyerinck oder mit Franz Kafka beginnen.


Quelle:

"PRAG"

Sorges, Jürgen:
Prag selbst entdecken/Jürgen Sorges

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

2. vollst. u. erw. Neuaufl., - Zürich, Regenbogen-Verlag 1999
(selbst entdecken)
ISBN 3-85862-087-4

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2. vollständig revidierte und erweiterte Neuausgabe 1999

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