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"Der Rabbi und die Rose"


aus dem tschechischen übersetzt von Gustav Just

weiteres zu Rabbi Löw:
über Rabbi Löw
Ada Christen und Rabbi Löw







Der hohe Rabbi Löw lebte viele Jahre, lernte viel in seinem Leben kennen, gab vieles von seinen Erkenntnissen und seinem Wissen an seine Schüler weiter und legte es in den Büchern nieder, die er schrieb. Aber auch in den Fußstapfen des weisen Rabbi schritt der Tod und harrte seiner Stunde.
Die Jahre vergingen, und es schien, daß der Tod dem Rabbi nichts anhaben könnte.
Der Tod aber ruhte nicht. Und wieder einmal wurde die ruhmreiche Stadt Prag von der Pest heimgesucht, und die Straßen veränderten ihr Aussehen. Die Angst vor der Ansteckung durch die tödliche Seuche trieb die Leute in ihre Behausungen oder führte sie in die Schenken, wo sie in unmäßigem Trunk und närrischem Tanz Vergessen suchten. Gegen die Pest war kein Kraut gewachsen. Es starben die dahin, die in ihren Häusern vor Angst zitterten, von ihren Lieben auf immer Abschied nehmen zu müssen. Es starben jene dahin, die in ausgelassener Gesellschaft zechten und im Tanze dahinwirbelten. Es starben Alte und Junge, und am schlimmsten wütete die Pest in der Judenstadt. Das Friedhofstor stand dort Tag und Nacht offen.
Der Kummer über die Heimsuchung durch die Pest ließ den hohen Rabbi nicht schlafen. Er ging Nacht für Nacht aus dem Hause, irrte durch die Gäßchen der Judenstadt, wo das Licht in den Fenstern die Stuben der Sterbenden anzeigte. Er begegnete den Totenträgern, die vom Friedhof zurückkehrten, um neue und abermals neue Fracht zu holen, und er vernahm das Weinen der Witwen und das Wehklagen der Eltern und das Jammern der Kinder. Weder Türen noch Wände vermochten das Weinen und Klagen zurückzuhalten und zu dämpfen. Die Schwingen des unerbittlichen Würgeengels breiteten sich über der Stadt aus.

Bei einer seiner nächtlichen Wanderungen gelangte der Rabbi bis zum Friedhof, wo auch zur Nachtzeit ein reges Treiben herrschte. Im Fackelschein wurden hier neue Gräber ausgehoben. In diesem düsteren Licht erblickte der Rabbi eine Gestalt, die im Friedhofstor stand, verhüllt von Kopf bis Fuß. Er trat näher heran, um erkennen zu können, wer diese geheimnisvolle Gestalt sei. Und im Dämmerschein gewahrte er fiebrig glänzende, tief in den Höhlen liegende Augen und ein ausgemergeltes Gesicht, in dem nur Haut die Knochen bedeckte. Er blickte dem Tod in die Augen. Der Tod stand im Friedhofstor und hielt ein Blatt Papier in seinen Knochenfingern. Darauf waren die Namen derer verzeichnet, die am kommenden Tage ihre Familien verlassen mußten, um nie mehr zu ihnen zurückzukehren.
Der Rabbi riß dem Tod das Blatt aus den Fingern, knüllte es zusammen und verbarg es unter seinem Mantel.
Der Tod heulte auf wie der wehmütige Herbstwind im Schornstein und sagte:
"Du kannst dir von mir aus einbilden, gewonnen zu haben, und dennoch werde ich deiner nicht vergessen."
Der hohe Rabbi ging nach Hause und las sich die Namen derer durch, die am nächsten Tage sterben sollten. Es waren viele, der morgige Tag sollte ein Tag des großen Sterbens sein. Unter den Namen fand der Rabbi auch den seinigen. Er hatte zu Ende gelesen und streckte dann nachdenklich die Hand mit dem unheilvollen Blatt über die Kerze. Das Verzeichnis der Todgeweihten verbrannte. Die Asche zerrieb der Rabbi zwischen den Fingern.
Von dieser Nacht an schlug die Pest nicht mehr zu, und das Verderben wich zurück hinter die Tore und Mauern der Stadt. Alle atmeten auf, das Leben kehrte in seine alten Geleise zurück.

Der Rabbi wußte, daß ihm der Tod seine Tat nie verzeihen würde. Um so sorgsamer achtete er auf jeden seiner Schritte. Der Tod nahm die verschiedensten Gestalten an, stellte dem gelehrten Rabbi Fallen und lauerte auf ihn an den verschiedensten Orten. Aber der Rabbi Löw erkannte ihn jedesmal von weitem, wich ihm rechtzeitig aus und wählte einen anderen Weg.
Die Jahre gingen dahin, und der Rabbi war irnmer noch der Sieger über den Tod. Und weil er vor Ruhm und
Würde floh, erreichten ihn Ruhm und Würde noch zu seinen Lebzeiten. An seinen Geburtstagen trafen sich Verwandte, Freunde und Schüler, und es war ihrer stets eine große Zahl. Der Rabbi saß in ihrem Kreise und genoß den Frieden, den das hohe Alter mit sich bringt.
Einst saß er wieder einmal im Kreise seiner Lieben und nahm die Glückwünsche seiner Gäste entgegen. Er war damals siebenundneunzig Jahre alt, und sein Bart und Haar waren weiß wie der Winterschnee, aber die Augen waren immer noch voll freundlicher Herbstsonne.
Da trat an den Rabbi die jüngste Enkelin heran und reichte ihm eine frische Rosenblüte. Der Rabbi nahm die Rose
entgegen und roch lange daran Er roch an der Rose, sein Haupt sank nach vorn, und das Kinn fiel auf die Brust. Der Rabbi hauchte sein Leben aus. Die Rose entglitt seiner Hand. In der Rose hatte sich der Tod verborgen, mit ihrem Duft hatte er den Weg zum Herzen des hohen Rabbi gefunden. Durch eine List hatte er Jehuda, den Sohn des Bezalel, genannt der hohe Rabbi Löw, überwunden.
Der Rabbi mußte die Welt der Lebenden verlassen, und sein Haus mit der in Stein gemeißelten Weintraube und dem Löwen über dem Eingang verwaiste. Seiner harrte eine andere Behausung. Sein Grabmal auf dem alten Judenfriedhof in Prag erinnert an ein Häuschen mit Giebel und Dach. Hier ruht der Rabbi Löw an der Seite seiner treuen Gattin Perla.

Von Zeit zu Zeit gleitet durch einen Spalt im Grabstein ein Brieflein hinein, worauf die Bitte oder der Wunsch eines Besuchers geschrieben steht. Selbst die letzte Ruhestätte des hohen Rabbi sucht die Sehnsucht oder die Angst eines Menschen auf und ruft seine Barmherzigkeit an, so wie in den Zeiten, da er noch unter den Lebenden weilte. Und so geschieht es bis zum heutigen Tage.
Nach Jahren verstarb auch ein Enkel des Rabbi Löw namens Samuel. Er war dem Rabbi zu dessen Lebzeiten besonders nahe und teuer gewesen. Deshalb hatte ihm der Rabbi versprochen, er werde dereinst nach seinem Tode neben ihm ruhen. Als nun Samuel starb, waren die Totengräber in Verlegenheit, wie sie dem Wunsche des berühmten Rabbi nachkommen sollten. Der Toten waren es auf dem engen Friedhof immer mehr geworden, und rings um die Grabstätte des Rabbi Löw war kein Platz mehr frei. Der hohe Rabbi erbarmte sich ihrer jedoch. In der Nacht rückte der Grabstein von der Stelle und machte dem Enkel Platz neben den sterblichen Überresten des Rabbi.
Der hohe Rabbi Löw hatte sein gegebenes Wort eingelöst, selbst nach seinem Tode.




Das Vorwort

Es ist Dezember. Still und ernst wallt der Nebel von der Moldau her. Sein weißes Heer steigt empor von der Stelle, wo einst die älteste Prager Furt den Fluß querte. Der Nebel dringt in die Prager Altstadt ein, in die Gassen des ehemaligen Ghettos, auf den alten Judenfriedhof. In seinen nassen, kalten Stapfen schreitet die Dämmerung einher.
Still und ernst senkt sich das weißliche Grau auf die alten Grabsteine des Judenfriedhofs. Sie stehen dicht beieinander, und es sind ihrer Tausende. Wer liegt unter ihnen in mehreren flachen Schichten, wer ruht hier seit langen, ewig langen Jahrhunderten?
Im Abenddämmern erblicken wir eine hebräische Aufschrift und ein in Stein gehauenes Zeichen. Die Geige hier bezeichnet die Stätte, wo man einen Musiker bestattete, die Schere dort das Grab eines Schneiders, über dem Grab des Buchdruckers oder des Kantors wurde ein Buch eingemeißelt, über dem des Apothekers ein Mörser mit Stößel.
Allmählich versinken die Zeichen der jüdischen Familien und die Namen im Dämmern, noch strecken sich die segnenden Hände einer Rabbinerfamilie gen Himmel, noch gemahnt ein schreitender Löwe an den Namen Jehuda, das hebräische Wort für Löwe, noch erinnert ein Hirsch an den hebräischen Namen Zwi, noch blühen die steinernen Rosen über den Gräbern der Frauen mit Namen Rosa, und noch weist eine Szene aus dem Paradies auf die Stätte hin, wo eine Eva für ewige Zeiten ruht. Und noch künden steinerne Trauben von Weisheit und Fruchtbarkeit.

Die Grabsteine aus rosafarbenem Slivenecer Marmor sind feucht vom Nebel und schimmern stellenweise, als erzitterte auf ihnen der Widerschein eines längst erloschenen Brandes. Die vor den Feuersbrünsten in der Judenstadt flüchteten, ruhen ebenso wie jene, die deren Opfer wurden, tief in der Erde. Und mit ihnen die Geschichten ihres Lebens, ihre Wirklichkeit und ihre Träume.
Hier ruht ein Schächterehepaar, das sich am Ende einer jeden Woche wiegen ließ und danach so viel Fleisch umsonst an die Armen verteilte, wie sie beide zusammen wogen. Hier liegt der weise Kohen, der bis zum Papst mit seiner Bitte pilgerte, er möge den Kaiser Ferdinand 1. von dem Schwur befreien, die Juden aus seinem Reiche zu vertreiben. Hier fanden gelehrte Rabbis nach Jahren der Wahrheitssuche ihren ewigen Frieden, aber auch jüdische Handelsleute, die ihr ganzes Leben lang ihren Geschäften nachgegangen waren. Hier fanden Krämer und Goldschmiede und Ärzte ihre letzte Ruhestätte, arme Gepäckträger ebenso wie reiche Leute. Oftmals ging ihre Vergangenheit ohne ihre Namen in die Geschichte und die Legenden ein.

Hinter den Gräberzeilen an der Mauer geht jemand auf und ab und sucht etwas zwischen den Gräbern. Er verhält am Grabmal des berühmten jüdischen Gelehrten, des weisen Rabbi Löw, seinen Schritt. Jetzt neigt er sich über das Grab. vielleicht legt er darauf ein Steinchen nieder zu Ehren des Andenkens an den Toten. Nach dem alten Brauch der Juden, die durch Wüsten wanderten, wo keine Blumen blühten. Es kann auch sein, daß er in die Spalte im Grabstein ein Blatt Papier mit seinem geheimen Wunsch und der Bitte um Erfüllung schiebt. Selbst die Jahrhunderte vermochten den Glauben an die Zauberkraft des Rabbi Löw nicht zu zerstören.
Schon tritt auch um das Grab des berühmten Rabbi Löw der Nebel mit weichen Füßen auf, noch eine Weile, und er wird alles verhüllen. Die Grabsteine verlieren ihre Umrisse. Das Nahe entfernt sich, und das Ferne ist nahe.
Der Schritt des letzten Besuchers verhallt, und dann nur noch Stille und Dämmer. Das ist die Stunde, da die Legenden und Märchen zum Leben erwachen und jene besuchen, die ihnen gerne lauschen.
So lasset uns mit ihnen lauschen.

Quelle:

"Der Golem"

ORIGINALTITEL
" Golem a jine zidovske povesti a pohadky ze stare Prahy"

AUS DEM TSCHECHISCHEN ÜBERSETZT VON
Gustav Just

3.Auflage 1974
Alle Rechte vorbehalten Union Verlag (VOB) Berlin
Lizenz-Nr. 395/2370/74. LSV 7231

Printed in the German Democratic Republic
Satz und Druck Druckwerkstätten Stollberg (VOB)
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Illustrationen und Buchgestaltung: Horst Hussel
6993650

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